Allheit
Manchmal kann Philosophie einen fesseln: Wenn sie zum Beispiel etwas zum Bewusstsein beitragen kann und zu der Frage, wie wir zu unserem Ich kommen. Dieter Henrichs, geboren 1927 und Begründer der Heidelberger Schule, aht soeben das Buch herausgebracht Das Ich, das viel besagt und nimmt Bezug auf Kant und auf Fichte, der etwas Unerhörtes behauptete.
Wie kommen wir dazu, Ich zu sagen? Wie kommen wir zu unserem Selbstbewusstsein — zu wissen, dass wir wir sind? Ich bin hier und schaue einen Gegenstand an und weiß, dass ich ihn anschaue. Woher weiß ich das? Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), der Begründer des deutschen Idealismus, sagte, das Ich schaue auf den äußeren Gegenstand, indem es durch sich hindurchschaue. Kein »innerer« Gegenstand steht ihm im Wege oder trübt seinen Blick nach draußen. Kant hielt fest, das Ich sei eine »an Inhalt gänzlich leere Vorstellung«; es besitze Transparenz. (Material stammt aus einem FAZ-Artikel von Manfred Frank über Henrichs)
Das Ich könnte sich durch jede Wahrnehmung begreifen: Aha, das bin ich, der ich das sehe. Doch diese »spiegelartige Selbstvergegenständlichung« müsste andauernd stattfinden. Nein, durch Reflexion und das Sehen von Objekten entsteht das Ich nicht. Da war vorher schon was. Fichtes Lösung: Es muss ein unmittelbares, ein aller Reflexion zuvorkommendes Bewusstsein geben, in dem Subjekt und Objekt schlechterdings eins und dasselbe sind; nicht ein sich spiegelndes und ein gespiegeltes Ich, keine Subjekt-Objekt-Spaltung.
Dieses unmittelbare Ich dachte also: Ich bin alles. Alles ist Ich. Das erinnert an ein kosmisches, ein göttliches Bewusstsein (der göttliche Funke in jeder unserer Zellen), in das man nach dem Tod wieder eintritt. Manche Menschen berichten nach einer Nahtod-Erfahrung, sie seien im All geschwebt, hätten alles gewusst, hätten sich allen tief verbunden gefühlt. Als hätten sie durch Gottes Augen geblickt. So sind wir erschaffen, und so bestätigt der Philosoph und Bewusstseinsforscher »okkulte« Erkenntnisse. Ich fühle mich bestätigt.
Auch als Amateur-Philosoph kann man sich ausmalen, wie unser jetziges, eingeschränktes Bewusstsein entstanden sein mag. Der Mensch ging mit Seinesgleichen um, wollte leben und musste jagen und arbeiten. Er brauchte einen Stein. Hol ihn mir! Der Stein brauchte einen Namen. Er bekam seinen Namen, die Sprache entstand, und aus der Ungeschiedenheit des Dschungels traten einzelne Dinge hervor — die er, der Mensch, offenbar nicht war. Die Welt wurde allmählich zu einem Anderen, zu einem Draußen, und zurück blieb ein Bewusstsein, das mit vielen Dingen und anderen Menschen um- und dabei von seinem eigenen Bewusstseins-Zentrum ausging.
Doch die Wahrheit steckt in jenem unmittelbaren Bewusstsein. Wir sind alles, wir sind nicht nur eine Menschenfamilie, sondern auch all das da draußen; sind verwandt mit Fischen und Blumen und Steinen. Dann wandten wir uns von dem kosmischen Bewusstsein ab, was das Christentum als Sündenfall verurteilte. Wir spalteten uns ab, und es kam zu einer »Bewusstseinshybris« (Carl Gustav Jung), die den Menschen dazu brachte, sich zum Beherrscher der Natur aufzuspielen. Die Rückkehr zum Stand der Gnade ist unmöglich, aber eine neue Demut ist denkbar: eine Erkenntnis dessen, was wir dem angetan haben, was wir selbst sind; eine Erkenntns davon, was wir in Wirklichkeit sind: göttliche Wesen, die sich vergessen haben. Das unmittelbare Bewusstsein ist die reine Wahrheit.