Schlachthaus

Als ich vor zehn Tagen anlässlich des Todes von Gaia und Camilla Marco Pierfranceschi zitierte, kam mir der Ausdruck Schlachthaus (mattatoio) etwas degoutant vor.  Jetzt, nach dem fürchterlichen Unfall in Südtirol, nicht mehr. (In der Online-FAZ  nichts darüber. Die lieben ja die Autoindustrie.) Vorvergangene Nacht sind auch zwei Frauen, 34 und 43 Jahre alt, nach dem Besuch einer Disco in Senigallia von einem Betrunkenen totgefahren worden. Sie gingen am Straßenrand zu ihrem Auto und wurden von dem Wagen ins Feld geschleudert.

Das Automobil kann als Symbol für diese Zivilisation dastehen. Es schenkt Fortbewegung mit maximalem Luxus, so dass ein Ethnologe einmal schrieb, früheren Menschen müsse es wie der legendäre »fliegende Teppich« erscheinen. Doch der Mensch geht über alle Grenzen hinaus und versteht es nicht, rechtzeitig haltzumachen. Die Fahrzeuge sind zu schnell und zu schwr, die Fahrer manchmal unreif und präpotent. Jeder darf fahren, Geld ist da, und so wurde die Welt mit Automobilen gefüllt, die sich gegenseitig paralysieren oder auch Unschuldige hinschlachten. Mit Tempo 40 in Innenstädten, 80 auf Landstraßen und 120 auf Autobahnen könnte man Tausende Menschen retten, doch der fahrende Mensch nimmt die Opfer in Kauf, um schnell fahren zu können. Die Automobilindustrie mahnt, ein Tempolimit würde ihre Existenz gefährden. Soll sie doch zugrunde gehen, die deutsche Automobilindustrie, die immer mehr der National Rifle Association in den USA ähnelt.

Dass jeder alles haben kann, war die Versprechung dieser Gesellschaft. Schrankenlose Produktion, Massentourismus, totaler Konsum haben den Planeten in die Krise gebracht. Die Demokratie ist erschöpft und eigentlich gescheitert. Anything goes und alles wird gemacht, und es gibt keine Instanz mehr, die ihr Veto einlegen könnte. Nichts verpassen wollen und sich zudröhnen, weil die Welt nicht mehr genügt: the world is not enough. Die Gewaltorgien in Hollywood-Filmen, die Ego-Shows der überdrehten, arroganten Star-Fußballer, die hohlen Gesten der Influencer, das Gestammel von Politikern und Showstars — alles Endzeit-Phänomene.

Nun haben sie das Klima entdeckt und schwadronieren herum, heucheln herum, doch ein Zurückrudern wird schwierig, nachdem man die (angeblich) totale Freiheit erfahren hat. Nun müsste man eigentlich Grenzen einziehen, Härte zeigen, einen neuen Anfang machen. Das Leben war zu gut, die Versprechungen waren zu groß, wir planen noch für die nächste Woche, wissen aber nicht mehr, was wir wollen und wollen können.

Die Opfer. — Ram Dass (alias Richard Alpert), der am 22. Dezember mit 88 Jahren gestorben ist, war ein amerikanischer Psychologe, der sich dem Hinduismus zuwandte. Vor sieben Jahren schrieb er einmal einen Brief an ein Elternpaar, dessen Tochter Rachel brutal ermordet wurde. Man denkt an die Eltern der Verkehrsopfer, die, wenn sie Schlaf finden, am nächsten Morgen in einen Alptraum hinein aufwachen: Unsere Tochter, die gestern heimkommen hätte sollen, ist tot. Sie kommt nie wieder.

Ein Brief an Rachel

Lieber Steve, liebe Anita,

Rachel hat ihre Arbeit auf Erden beendet, und sie verließ die Bühne auf eine Art, dass die Zurückgebliebenen mit einem Schrei der Empörung reagieren, da unser feiner Faden des Glaubens so gewaltsam geprüft wurde. Ist irgendjemand stark genug, während einer solchen Prüfung wie eurer bewusst zu bleiben? Vermutlich ganz wenige. Und auch sie hätten nur das Flüstern der Gelassenheit und des Friedens inmitten der röhrenden Trompeten ihrer Wut, ihres Kummers, Horrors und Verlassenheit zu bieten.

Ich kann euren Schmerz nicht mit irgendwelchen Worten lindern und sollte es auch nicht tun.

Denn euer Schmerz ist Rachels Vermächtnis an euch. Nicht dass sie oder ich einen solchen Schmerz absichtlich zufügen würden, aber hier ist er. Und er muss seinen Weg haben, seinen Reinigungsweg bis zum Abschluss. Denn etwas stirbt in euch, wenn ihr euch dem Unerträglichen stellt, und erst in der dunklen Nacht der Seele kann es sein, dass ihr seht, wie Gott sieht und liebt, wie Gott liebt.

Nun ist die Zeit, da euer Schmerz seinen Ausdruck finden soll. Keine falsche Stärke zeigen. Nun ist die Zeit, ruhig zu sitzen und mit Rachel zu sprechen und ihr für die wenigen Jahre bei euch zu danken und sie zu ermutigen, mit ihrer Arbeit fortzufahren, worin immer diese besteht, und sie möge wissen, dass ihr in Mitgefühl und Weisheit durch diese Erfahrung wachst. In meinem Herzen weiß ich, dass ihr und sie euch immer wieder treffen und erkennen werdet, auf wieviele Arten ihr einander gekannt habt. Und wenn ihr euch trefft, werdet ihr blitzartig einsehen, was zu wissen euch jetzt nicht gegeben ist. Warum dies so und nicht anders geschehen musste.

Unsere Vernunft wird nie verstehen, was geschehen ist, aber unsre Herzen können — wenn wir sie zu Gott hin offenhalten — ihren intuitiven Weg finden.  Durch euch gelang es Rachel, ihre Arbeit auf der Erde zu tun, was auch die Art ihres Todes einschließt.  Jetzt ist ihre Seele frei, und die Liebe, die ihr miteinander teilt, ist unangreifbar und nicht den wechselnden Zeiten und Winden unterworfen.  

In diese tiefe Liebe
schließt mich ein

In Liebe
Ram Dass   

 

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