Morgiane
Ali Baba und die vierzig Räuber ist eine Geschichte aus Tausendundeiner Nacht, erzählt von Sultanin Scheherazade ihrem Herrn. Die wahre Heldin der Geschichte ist Morgiane. »Diese Morgiane war eine geschickte, erfindungsreiche und unternehmende Sklavin«, heißt es in einer alten Märchensammlung, die — nach Schreibweise und Stil zu schließen — aus der Goethezeit stammen mag. Kritisch wird es, als sie tanzt …
Wir erinnern uns: Ali Baba stößt im Wald auf eine Gruppe von Räubern und hört mit, wie diese ihr Geheimversteck öffnen und schließen. Als sie weg sind, probiert es der Kaufmann: »Sesam, thue dich auf!« Es empfangen ihn Haufen Goldes, und er packt ein, was er einpacken kann. Dann empfiehlt er sich mit »Sesam, schließe dich«. Zu Hause misst er das Gold und verwahrt es gut. Leider bekommt sein Schwager Kassim Wind von der Angelegenheit, und der gutmütige Ali Baba verrät ihm den Weg und die Formeln. Kassim rafft ebenfalls an sich, was er kann, hat aber für den Rückweg die Formel vergessen; er muss bleiben und wird von den zurückkehrenden Räubern gevierteilt.
Ali Baba birgt später die Leiche, und Morgiane hilft ihm, diese zusammennähen zu lassen und ihr eine würdige Bestattung zu bereiten. Zwei Räuber kundschafteten die Tür des Ali Baba aus und brachten ein Zeichen an; der findigen Morgiane entgeht das nicht, sie pinselt also dasselbe Zeichen auch an andere Türen. Die beiden gescheiterten Räuber werden von ihren Spießgesellen getötet. Schließlich entdeckt der Hauptmann doch die richtige Adresse und kommt mit einer Karawane. Die Räuber sind in Säcken versteckt und sollen in der Nacht losschlagen. Morgiane tötet alle außer dem Hauptmann, indem sie Öl anzündet, dessen Dämpfe die Räuber ersticken.
Nun ist Ali Baba aber froh. Er gibt Morgiane die Freiheit. Der Räuberhauptmann ist nun alleine. Die Einsamkeit ist ihm unerträglich. Er will sich rächen, geht allein, mit einem »Dolch im Gewande«, zu Ali Babas Haus. Er nennt sich Kogia Hussain und sagt, er wolle kein Salz essen. (Salz mit dem Gastgeber zu essen, sorgt für Kameradschaft. Ein Mord ist danach nicht mehr möglich.) Morgiane schöpft Verdacht. Ali Baba sagt, man solle tun, was Kogia verlange, er sei ein hübscher und guter Mann. Noch bevor dieser seinen Plan umsetzen kann, beginnt Morgiane einen Tanz.
Nachdem sie einige Tänze getanzt hatte, zog sie den Dolch, und tanzte damit einen Tanz, worin sie sich selbst durch Mannigfaltigkeit und Stärke der Wendungen, durch kühne Sprünge und reizenden Anstand übertraf, indem sie den Dolch bald gegen einen Feind zu zucken, und bald sich selbst in den Busen zu stoßen schien. Fast athemlos riss sie dem Abdalla die biskajische Trommel hinweg, nahm sie in die linke, und den Dolch in die rechte Hand, und hielt die hohle Seite der Trommel dem Ali Baba hin, nach der Gewohnheit der eigentlichen Tänzer und Tänzerinnen, die auf solche Art die Freigebigkeit ihrer Zuschauern aufzufodern pflegen. Ali Baba warf Morgianen ein Goldstück in die Trommel, und der Sohn folgte seinem Beispiel.
Als Kogia Hussain sah, dass die Reihe an ihn kam, zog er den Beutel aus seinem Busen; aber indem er die Hand hineinsteckte, stieß ihm Morgiane den Dolch ins Herz, dass er todt auf den Boden hinstürzte. Ali Baba und sein Sohn schrien vor Schrecken laut auf. »Unglückliche!« rief Ali Baba, »was hast du gemacht? Willst du meine Familie zu Grunde richten?« »Nicht zu Grunde richten«, antwortete Morgiane, »sondern erhalten!« Zugleich breitete sie das Gewand des Kogia Hussain aus einander, und sprach, indem sie den Dolch zeigte: »Seht hier, mit welchem Mann ihr zu thun hattet, und betrachtet sein Gesicht, ob ihr nicht den vorgeblichen Ölhändler, und den Hauptmann der vierzig Räuber erkennt.«
Ali Baba ist noch mehr froh und gibt Morgiane seinem Sohn zur Frau. Die Familie lebt bescheiden und erweist sich des Reichtums würdig.
Die Illustration ist aus einem Märchenbuch. Da hält zwar Morgiane die Trommel in der rechten und den Dolch in der linken Hand, gerade umgekehrt, und wie sie es schafft, den linken Fuß nach vorne und das Gesicht genau entgegengesetzt, nach hinten zu richten, bleibt ihr Geheimnis oder das der Illustratorin. Ein erotisches Gemälde bleibt es.
∅
Doch darum geht es nicht. Morgiane konnte sofort klarmachen, dass sie ihrem ehemaligen Besitzer das Leben gerettet hatte. Nehmen wir aber an, die Tat bleibe rätselhaft. Du kennst einen Menschen, dem du vertraust und der dich schon einmal gerettet hat. Doch plötzlich begeht dieser Mensch eine ungeheuerliche Tat, die man sich nicht erklären kann. »Verrückt geworden« ist immer die einfachste Erklärung, die einem alles abnimmt. Die seltsame Handlung könnte einen Sinn haben, aber er erschließt sich dir nicht. Zu diesem Menschen, zu einem solchen Menschen hast du immer Vertrauen gehabt! Kannst du sagen: Gut, ich verstehe das nicht, aber ich stehe zu dir! Das wäre bedingungslose Liebe. Vielleicht wird sich der Sinn eines Tages einstellen. Wie schwer es doch ist, zu verzeihen und zu verstehen! Oder: nicht verstehen zu wollen, es blindlings zu akzeptieren. Blindlings.
So ist das vielleicht mit vielen Dingen, die im Leben passieren. Eine vage Ahnung sagt uns, dass das Universum sinnreich eingerichtet ist. Wir Menschen bringen vieles durcheinander, aber auch in unserem Leben wissen wir, dass viele Ereignisse einen geheimen Sinn hatten und haben. Können wir sagen, ja: Herr, dein Wille geschehe? Eines Tages wird sich alles weisen, und unsere Augen werden geöffnet werden. Dieses Leben ist vielleicht nur Spiel, es geht ja um die Seele, die ewig lebt, und die Prüfung ist für mich gedacht, ich will sie bestehen. Wie verrückt und sprunghaft wir auch agieren — alles findet sich und findet seinen Platz, und wir wissen einfach zuwenig. Morgiane tötet einen, den ich schätzte. Was hat sie sich dabei gedacht? Hab Vertrauen. Morgiane weiß immer, was sie tut, wie auch die große, geheimnisvolle Schöpferkraft, die durch uns und um uns wirkt.