Langeweile
Schon Graham Greene erkannte die Langeweile als Problem. Ich kann mit meiner Zeit nichts anfangen, ich stehe neben mir, habe keine Aufgabe und keinen Einfall. Alles öde. Die nächste Stunde ist lang wie ein Tag. Vielleicht ist die Langeweile eine Spielart der Sinnlosigkeit. Nähern wir uns dem allen an.
Im Altenheim trifft man auf Leute, die sich langweilen. Mein Job ist es ja, etwas dagegen zu tun, aber das geht immer nur ein paar Stunden. Man müsste eigentlich Hilfe zur Selbsthilfe leisten, aber einem Menschen einen Lebenssinn verleihen kann auch ich nicht. Da sind Menschen, die ihr Leben lang gearbeitet haben, Probleme bewältigt haben, bis zur Erschöpfung sich durch die Tage wühlten — und nun sitzen sie in einem kahlen Raum und warten auf die nächste Mahlzeit. Nichts sonst zu tun.
Die meisten haben ja mit den Händen gearbeitet und kennen das Glück oder die Befriedigung geistiger Arbeit nicht. Sie lesen keine Bücher. Die Zeit war ihnen ein Außen, man musste sie nutzen, und sie war oft zu knapp, um alles zu schaffen. Plötzlich aber ist sie in Hülle und Fülle vorhanden, und man weiß nichts mit ihr anzufangen als sie irgendwie totzuschlagen. Sie ließen sich früher alles von den Umständen oder von Vorgesetzten diktieren und kamen dem nach, so gut es ging. Nun sind sie auf sich allein gestellt und finden in sich drin nichts, das ihnen einen Halt gäbe.
Andere, Glücklichere leben mit der Zeit, sind ihre eigene Zeit und sehen sie nicht als Kontrahenten. Sie gestalteten ihre Zeit oft nach eigenen Entwürfen und erfanden sich Herausforderungen. Der Mensch will etwas schaffen und tätig sein. Er erfindet sich stets eine Problemlage, um sich daraus zu befreien, als wäre das Leben ein Spiel, um daran zu wachsen. Dem ist auch so. Aber fehlt dann die Aufgabe, so fehlt auch der Sinn. Man fühlt sich so nutzlos und wie nackt. Man hört sozusagen die Vorwürfe der Autorität: Du arbeitest nicht, du bist nichts mehr wert. Doch um auf dem Stuhl zu sitzen und sich bloß anwesend zu fühlen mit einem überirdischen Glücksgefühl, ist der Weg des Buddhisten und nicht der des westlichen Arbeitsmenschen.
Auch die Rentner heute sind tätig. Sie mussten sich neu erfinden. Zu ihrem Glück gibt es ein Haus und ein Auto und Beziehungen zu Freunden, was viel Zeit füllt. Bis sie krank werden, sich nur mehr langsam bewegen können und womöglich im Pflegeheim landen. Viele machen das Beste draus, wenden sich anderen zu, finden Freundschaften, sehen fern, plaudern und regen sich auf und lernen, die Heimgemeinschaft als Familie zu sehen. Andere jedoch verkümmern, wandern ruhelos umher oder bleiben stumm sitzen, glotzen vor sich hin. Das ist die landläufige Vorstellung vom Bewohner des Altenpflegeheims.
Manche sehen Beten als ihre Aufgabe an. Oder sie stützen und helfen sich gegenseitig. Sie schlafen auch viel, weil sie eben müde sind. Das Problem der Langeweile bleibt. Schon Menschen im Arbeitsleben fühlen sich manchmal ausgepowert und fragen sich, was das alles soll. Burnout. Depressionen. Die Zeit dehnt sich endlos. Nach zehn Jahren sollte ich erneut ein Buch über die Zeit schreiben. Wenn wir nicht über sie nachdenken, sind wir glücklich und wirklich da, wo wir sind. Wenn wir mit ihr herumkämpfen, wird das Leben schwer. Wir definieren uns eben über die Leistung; es reicht uns nicht, bloß da zu sein und zu atmen. Man möchte die Dementen fast glücklich schätzen — für sie existiert das Problem des Sinns nicht. Aber es stellt sich uns in aller Schärfe. Den Sinn des Lebens ohne Arbeit, den muss man sich erkämpfen, und das ist manchmal ebenso schwer wie die schwerste Arbeit.
(Illustrationen: von einem unbekannt bleiben wollenden Fotografen, dem manipogo hiermit dankt.)