Olga Tokarczuk

Die Nobelpreisträgerin für Literatur 2018 (ein Jahr später vergeben) heißt Olga Tokarczuk. Ich kann mir den Namen nur schwer merken. Sie sei die Stimme des zeitgenössischen Polen, hieß es. Ihr heimatliches Terrain liegt an der Grenze zu Tschechien, es ist das Waldland westlich von Waldenburg (Wałbrzych), wo ich vergangenen September sogar übernachtete. Ihr Buch Dom dzienny, dom nocny fängt mit einem Traum an, einem Flugtraum, und das ist ein starker Anfang.

Dieser Traum klingt unwirklich und gerade deshalb wirklich. So träumen wir manchmal, wenn wir vielleicht außerhalb des Körpers sind und von oben unsere Welt betrachten, wenn wir den Sinn für unsere Individualität verloren haben und nur mehr Zeugen sind. Wir seien ohnehin alle Teil eines Körpers, erzählte Mellen-Thomas Benedict von seinem grandiosen Todeserlebnis (er war wirklich tot), und durch uns erforsche Gott sich selber. Dann — nach dem Abschied von dieser Existenz — sind wir wieder Teil der uranfänglichen Allheit und kennen keine Zeit, bis wir uns wieder an einen Körper ketten.

Ich bin im Polnischen noch etwas ungeschult, will aber trotzdem eine Übersetzung versuchen. Ich raffe ein wenig, damit es nicht zu lang wird.

Traum

In den ersten Nächten hatte ich unruhige Träume. Mir träumte, dass ich völlig Geschautes war, völlig Blick war, und ich habe nicht einmal einen richtigen Namen. Der Blick schweift über das Tal hin, von einem unbestimmten Punkt, von dem ich alles oder fast alles sehe. Ich fühle mich in diesem Geschauten, aber bleibe am Ort. Die gesehene Welt gefällt mir, wenn ich auf sie schaue, und sie rückt näher und genau so nah, dass ich alles erblicken kann oder auch etwas in seinen winzigsten Einzelheiten.
Ich sehe also das Tal, in dem das Haus steht, genau in seiner Mitte, aber das ist weder mein Haus noch mein Tal, weil von mir nichts hierher gehört, und weil ich selbst nicht hierher gehöre, und es gibt nicht einmal etwas wie ich. (…)

Unter dem Dach sehe ich die Körper schlafender Menschen, und ihre Reglosigkeit ist auch so scheinbar — ein delikates Pulsieren in ihren Herzen, es rauscht das Blut, nicht einmal ihre Träume sind Wirklichkeit; es gelingt mir trotzdem zu sehen, was sie alle sind: pulsierende Teile von Gemälden. Jeder dieser schlafenden Körper ist mir fern, jeder im Hintergrund. Und in ihren verworrenen, geträumten Gedanken sehe ich mich selbst — und da erkenne ich diese seltsame Wahrheit: Dass ich Geschautes bin, ohne Reflexion, ohne jede Bewertung, ohne zu fühlen. Und sofort erkenne ich eine weitere Sache — dass ich auch durch die Zeit schauen kann, dass ich, ebenso wie ich jeden Blickpunkt im Raum verändern kann, ich ihn in der Zeit verändern kann so wie den Pfeil auf dem Computerbildschirm … 

Dieser Traum, scheint mir, ist unendlich lang. Es gibt kein Vorher und kein Danach, ich warte auch nicht auf Neues, kann auch nichts bekommen und nichts verpassen. Die Nacht nimmt kein Ende. Nichts spielt sich ab. Nicht einmal die Zeit verändert sich, das sehe ich. Ich schaue, und obwohl ich nirgends etwas Neues erkenne, vergesse ich auch nicht, was ich sehe.

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