Staufen, Breisgau

Besuche in dem Altenpflegeheim, in dem meine Mutter untergebracht ist, sind UNTERSAGT. Ruf doch mal an, ersuchte mich  vor ein paar Tagen meine Schwester. Hab ich gemacht. Unsere Mutter sitzt immer im Erdgeschoß am Fenster, mit Blick weg davon. Ich stellte mich also auf die Wiese, rief die Station an und bat die Diensthabende, meine Mutter doch mit dem Stuhl umzudrehen, damit sie mich sehen könne …

Dann hatte meine Mutter das Telefon in der Hand und hörte meine Stimme. Sie schaute natürlich ganz woanders hin, doch dann wurde ihr beim Aufstehen geholfen, sogar eine Fenstertür wurde halb geöffnet, und ich hatte meine Mutter vier Meter entfernt; sie stand oberhalb, durch das Balkongitter von mir getrennt, aber ich sah sie und winkte, und sie lächelte verschämt zurück, und ich sagte, dass wir an sie denken, immer wieder kommen, und rief: »Küsschen!« Zwei Tage später kam ich und hielt ihr ein selbstgemaltes Transparent hin, auf dem in bunten Buchstaben stand: » Hallo Mutti! Wir lieben dich!« Lesen kann sie ja gut. Sie sah mich an, dann kamen ihr die Tränen in die Augen. Als es ihr zuviel wurde, sagte sie sogar: »Jetzt geh!«

Das alles erinnerte mich an die Schlussszene aus dem Film Paris, Texas von Wim Wenders  (1984), die manche für eine der schönsten Szenen der Filmgeschichte halten. Nastassja Kinski arbeitet in einer Peep-Show, Harry Dean Stanton geht hin, und da hat es ein Telefon, das er ergreift. Was er in dem abgedunkelten Raum ins Telefon spricht, hört sie in ihrem Zimmer, in dem sie sich produzieren soll. Sie, die mit Harry ja ein Kind hat, streift ihre Haare zurück, und er sagt in den Hörer: Can I tell you something? — Sure, anything you like. — It’s kinda long … Harry legt den Hörer weg, dreht sich mit dem Rücken zu ihr und beginnt. Es sind anscheinend drei Teile, und hier haben wir Teil eins, und dann gibt es noch zwei und drei. Hab ich mir nicht angeschaut. Ist auch zuviel des Emotionalen.

Nach dem Besuch bei meiner Mutter trank ich an der Sonne noch etwas und las in meinem Buch weiter. Das ist Frenchman’s Creek von Daphne du Maurier. Dona, eine selbstbewusste, unkonventionelle Frau und Mutter zweier Kinder, hat London verlassen, um in Cornwall am Meer auf ihrem Landgut ihre Ruhe zu haben. Sie lernt einen französischen Piraten kennen, der mit seinem Schiff und seiner Mannschaft die Küste unsicher macht. Es ist aber ein gebildeter, freundlicher Pirat, und sie verliert ihr Herz an ihn und will ihn auf einem Raubzug begleiten. Doch da sind die Kinder und der Butler William, wie kann sie das rechtfertigen? Dona sagt ihm ruhig:

Ich muss auch meine Pläne machen. Ich glaube, ich werde indisponiert sein und mich ins Bett legen, und meine Krankheit wird von Fieber begleitet sein, so dass das Kindermädchen und die Kinder meinen Raum nicht betreten dürfen. Nur William wird nach mir sehen. Und jeden Tag bringt der getreue William Essen und Trinken zu der Patientin, die — nicht da sein wird. 

Sie sei sehr einfallsreich, lobt der Pirat. Da war jedenfalls wieder der Quarantäne-Gedanke, so passend für meine und unsere Situation. Ich denke darüber nicht mehr viel nach. Bücher sind Repräsentanten der Geistigen Welt, in der zusammengehörende Gedanken sich anziehen wie Magnete, und immer wieder kommen zwei Geschichten zueinander wie ein Reim. Darüber habe ich vor zehn Jahren mal in der Kritischen Ausgabe + geschrieben, der Beitrag heißt Parallellinien. Der Soundtrack dazu: der Song Parallels von den Yes.

Ein paar Tage vorher war ein Mann, den ich kenne, ins Krankenhaus gekommen, weil er nichts mehr getrunken hatte, und am selben Nachmittag beschnitten Arbeiter die Birke in unserem Garten, und eine Fachfrau sagte mir, die Birke sei halb verfault, weil es zu trocken gewesen sei, sie habe zu wenig Wasser bekommen … Das ist irgendwie die Duplizität der Ereignisse, eine Episode beleuchtet die andere, das ist kein Zufall, sondern eine Struktur im Universum, in dem eine wundersame Ordnung waltet und in dem Symmetrie wichtig ist, wie auch schon der Physiker Werner Heisenberg erkannte. Allah erschuf alles in Paaren, heißt es im Koran.

 

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