Josefs Tag
Sogar in manchen Kantonen der Schweiz ist der 1. Mai ein Feiertag, etwa in Basel-Stadt und -Land sowie in Zürich. Die Nationalsozialisten führten den Tag der nationalen Arbeit 1933 ein, und in jenem Jahr wurde er erstmals gefeiert. Hitler hielt eine Rede vor Hunderttausenden auf dem Tempelhofer Feld in Berlin. Zehn Jahre nach dem Krieg (1955) widmete Papst Pius XII. den Tag dem Gedenken an Josef den Handwerker: an den Mann Marias und Stiefvater Jesu, traditionell Patron der Arbeiter.
Der Josefstag ist eigentlich am 29. April, das war vergangenen Mittwoch. Da ging man früher in Staufen zum »Josefsbergerl« und betete vermutlich vor einem Kreuz. Mir fiel das kürzlich ein, weil eine alte Bekannte (vor einem Monat verstorben) davon erzählt hatte, und dann begann mich der Name zu verfolgen: Es war wie eine Kette von Assoziationen, die vor mir systematisch ablief.
Ich lese am späten Abend noch gern im Koran, und zufälligerweise klickte ich Sure XII an, die Yûsuf oder Josef heißt: 111 Sätze in 12 Sektionen. Es ist die nacherzählte Geschichte aus der Bibel, in der Genesis mit Josef und seine Brüder beschrieben (Kapitel 37 bis 59). Thomas Mann hat unter diesem Titel von 1933 bis 1944 übrigens vier Romane veröffentlicht und folgt auch dem biblischen Vorbild.
Josef ist der Sohn Jakobs und hat zwölf Brüder, die ihn jedoch hassen, weil er Papas Liebling ist. Sie sprechen sich ab und verkaufen Josef an Kaufleute, die nach Ägypten ziehen. Er bekommt Arbeit am Hof, doch die Frau eines Beamten will ihn verführen; er weigert sich, sie rächt sich, Josef kommt ins Gefängnis, deutet dem Gefängnischef einen Traum, wovon der Pharao Wind bekommt, denn ihm träumte auch etwas Seltsames: Sieben fette Kühe werden von sieben mageren Kühen gefressen. Josef sagt: sieben fette Jahre kommen, dann sieben magere ohne Ernte. Ihr müsst vorsorgen, Pharao, und die Überschüsse einlagern für schlechte Zeiten.
Josefs Geschichte ist die einer Karriere, die durch Zufälle und etwas Glück im Unglück begünstigt wird. Josef wird Ministerpräsident des Pharao, also ein mächtiger Mann, und als seine hungernden Brüder zum Kauf von Getreide auftauchen, lässt er sie gehörig leiden, gibt sich ihnen dann jedoch zu erkennen und weint (in der Bibel weinen viele, wenn sie gerührt sind) und vergibt ihnen alles. Sie lassen sich alle in Ägypten nieder, wo dann Vater Jakob stirbt, und es endet so (Gen 50,26):
Josef starb im Alter von hundertzehn Jahren. Man balsamierte ihn ein und legte ihn in Ägypten in einen Sarg.
Da kam mir dann auch ein anderer Joseph in den Sinn: der bei Derek Walcott, in seinem Gedicht VIII im Band White Egrets. Hatte ich noch nie erwähnt, dabei ist es eines der schönsten, verschlungen und schwerelos zugleich und bildkräftig.
We were by the pool of a friend’s house in St. Croix
and Joseph and I were talking: he stopped the talk,
on this visit I had hoped that he would enjoy, to point out, with a gasp, not still or stalking
but fixed in the great fruit tree, a sight that shook him
»like something out of Bosch«, he said.
Er, der Lyriker, plaudert also mit Joseph am Pool, als der plötzlich innehält, weil er etwas Erschreckendes sieht, was ihn an die Horrorbilder von Hieronymus Bosch erinnert. Was sieht Joseph? — Einen großen Vogel, der plötzlich da war, und vielleicht war es der, der ihn später geholt hat, räsonniert Walcott … und beide wollen etwas sagen, es liegt ihnen auf der Zunge, denn es ist eine schlimme Vorbedeutung, und Walcott fährt fort, dass das, was Joseph schockierte — ihn, der Schnee liebte —, war, dass der Vogel so fleckenlos weiß aussah (spectral white). Wenn nun die Reiher am Abend in Reihen aufsteigen und als Regatta übers grüne Meer fliegen und es mit den Flügeln berühren, denkt er, dass sie seraphische Seelen sind, wie Joseph eine war.
Und zum Abschluss noch Musik. Ich spielte gestern einem Bewohner ein Lied von Paul Simon vor und war selber verblüfft (vielleicht nicht so stark wie Joseph über den Vogel), dass ich da erneut Joseph hörte. Under African Skies fängt mit den schönen Zeilen an:
Joseph’s face was black as night
The pale yellow moon shone in his eyes.
His path was marked
by the stars in the Southern Hemisphere
And he walked his days
under African skies.
Hört euch unbedingt den Song an, hier (1987, live) gesungen von Paul Simon und Miriam Makeba! In einem Kommentar war der Name Joseph Shabalala erwähnt, der Text und Musik geschrieben habe. Wieder ein Joseph! Wieder einmal stimmt alles. Er gründete Ladysmith Black Mambazo, die mit Simon im Zuge des Albums Graceland weltberühmt wurden. Gestorben ist Shabalala erst dieses Jahr, 78 Jahre alt, und exakt am 11. Februar, am Geburtstag dessen, der hier über die Josephs schreibt. Anders hatte ich das auch nicht erwartet.