Flugverkehr (96): Gomez fliegt nach Barcelona

Fliegen hebt dich heraus aus dem Durcheinander. Du kannst dich neu orientieren und sehen, wo du stehst; die vergangenen Aufregungen sind nicht mehr so aufregend, eine wohltuende Distanz liegt zwischen dir und deinem Leben, und was im Flugzeug sitzt, das bist DU: ohne Beziehungen, Auto,  Haus, Job, Heimatland — das bist einfach DU, nackt und bloß und mit all dem, was du bist und gelernt hast. — Gomez verlässt Paris und fliegt nach Barcelona, es ist der 26. September 1938, Europa erwartet den Krieg, und das Buch heißt Le Sursis (Der Aufschub) von Jean-Paul Sartre.

Sartres Buch erschien 1945, nach dem Krieg. Es war der zweite Teil einer Trilogie unter dem Titel Les Chemins de la Liberté (Die Wege der Freiheit). Ich erinnere mich, den ersten Teil, L’âge du raison, hatte ich vor fast 50 Jahren gelesen, als Heranwachsender, und er hatte mir sehr gut gefallen, weil Mathieu sagt Je suis un type foutu (ich bin ein Gescheiterter), und als junger Mensch ist man gern melodramatisch und selbstmitleidig.

Zufällig fiel mir nun Le Sursis in die Hände, in dem Mathieu erst auf Seite 374 sagt, das Leben liege hinter ihm, er lasse es hinter sich und bereue nichts, und er selber sei auch nichts. Nichts sein, das ist gut und wertfrei; das ist der beste Ausgangspunkt. Das sagt Mathieu, nachdem er mit Gomez einen Nachtclub in Paris besucht hat. Der Spanier verbringt ein paar Stunden bei einer Nutte und fliegt dann in den spanischen Bürgerkrieg, zu seinen Soldaten.

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Das Flugzeug näherte sich den Bergen. Gomez betrachtete sie, und dann betrachtete er unter sich die Flüsse und die Felder, es gab zu seiner Linken eine ganz runde Stadt, alles war lachhaft und so klein, das war Frankreich, grün und gelb, mit seinen Grasteppichen und ruhigen Flüssen. »Adieu! Adieu!« Er würde in die Berge eindringen, adieu Rinderfilets Rossini, Corona-Zigarren und schöne Frauen, er DSCN3343würde tiefergehen und die rote und nackte Sonne anpeilen und das Blut. Adieu! Adieu! Alle Franzosen waren da, dort unter ihm, in der runden Stadt, auf den Feldern, am Ufer der Gewässer: 18 Uhr 35, sie wirbeln wie die Ameisen, sie warten auf die Rede Hitlers. Ich warte auf nichts. In einer Viertelstunde würde er diese sanften Ebenen nicht mehr sehen, enorme Steinblöcke würden ihn von diesem Land der Angst und des Geizes trennen. In einer Viertelstunde würde er auf die mageren Männner zufliegen mit ihren lebhaften Gesten, mit den harten Augen, zu seinen Männern. Er war glücklich, mit einem Kloß Angst in der Kehle. Die Berge näherten sich, sie waren jetzt braun. Er dachte: Wie werde ich Barcelona vorfinden?   

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