Das Einhorn

Ich kenne einen zauberhaften Satz von Paracelsus, diesem Magier und Arzt aus dem Kanton Schwyz, der von 1493 bis 1541 lebte. Seit langem will ich ihn zitieren, und nun  fand ich einen aktuellen Bezug und kann ihn loswerden; aber nun zögere ich und will ihn nicht verschenken, wenngleich ich zugeben muss, dass es nur ein kurioser Satz ist, in den ich mich verliebt habe. Gleich, nach einem Atemholen!

Paracelsus schrieb also 1530: »das einhorn hat sein kraft nit von im selbs sonder es wird im vom himel eingegossen.« So schrieb man im 16. Jahrhundert; für uns klingt es kindlich und charmant, ich jedenfalls bin hingerissen. Paracelsus meinte das ernst; er war ein ziemlich dicker Mann, der vermutlich mit wulstigen Fingern seinen Federkiel bediente und die Wörter Pergament aufprägte. Das Einhorn, das Symbol für das Gute, ist also göttlicher Natur. Gott ist gut. Wer auf ein Einhorn trifft, ist gesegnet. Niemand weiß ja, ob es das Einhorn je gab. Es war ein pferdeähnliches Fabelwesen, das schreiben zumindest die Lexika.

Bevor es mit dem Einhorn weitergeht, noch einmal Paracelsus. Er wusste schon um den Astralkörper: »der mensch hat zween leib, ein elementischen und ein siderischen … der elementirt leib bleibt im grab und ist immobile, der siderisch leib aber ist mobilis, bewegt sich und bleibt nicht an einem ort, sondern er sucht die wonung, die derselbig mensch bei seinem leben gehabt hat …  die selbigen örter sucht diser leib nach dem tot und durchwandelts alles. aus dem entspringt, das man sagte, ich hab dessen geist gesehen, ich hab den sehen gehen, so es doch nur der siderisch leib ist … «  Weiter Einhorn.  

Einmal kam ich auf einer Fahrradtour durch ein Dorf in der Nähe von Weinheim und sah einen alten aufgelassenen Gasthof, der Zum Einhorn hieß. Was waren das für Leute, dachte ich mir, die ihr Wirtshaus so nannten? Der Einhorn-Mythos war im Volk vielleicht tiefer verankert, als wir meinen. (Bild: Phallus oberhalb von St. Gallen) Dann stieß ich auf das Gedicht Das Einhorn von Christian Morgenstern (1871-1914), das vieles erklärte: »Das Einhorn lebt von Ort zu Ort / nur noch als Wirtshaus fort. / Man geht hinein zur Abendstund / und sitzt den Stammtisch rund. / Wer weiß! Nach Jahr und Tag sind wir / auch ganz wie jenes Tier. / Hotels nur noch, darin man speist – / (so völlig wurden wir zu Geist), / Im „Goldnen Menschen“ sitzt man dann / und sagt sein Solo an …« Solo, das ist aus dem Skatspiel. Aber es passt gut zu meinen zeitweiligen Untergangsphantasien.  

Doch alles kommt wieder. In unserer mythenarmen Zeit greifen Esoteriker in die Geschichte und bereiten die alten Stoffe neu auf. Im Programm des Kongresses »Lebenskraft 2013« Ende Februar/Anfang März in Zürich las ich folgende Ankündigung eines Workshops am 2. März von 20 bis 21.30 Uhr: 

»Begegnen Sie den Einhörnern auf einer Heilreise in das Land der Einhörner. Lassen Sie sich von ihrer Lichtenergie an Punkten Ihrer Seele berühren, die noch nie zuvor berührt worden sind. Empfangen Sie die Energie, um sie für sich und andere anwenden und genießen zu können. Wir nehmen die Verbindung zu Ihren persönlichen Einhörnern auf und werden in dieser hohen Schwingung einen persönlichen Einhornenergiestein (bitte einen Stein mitbringen) von den Einhörnern aufladen lassen.« Referentin: Melanie Missing, Deutschland.

So klingt also Einhorn-Propaganda fast 500 Jahre nach Paracelsus. Sogar Physiker kennen das Sagentier noch. Wenn man ein Tachyon entdecken würde, ein überlichtschnelles Teilchen, dann wäre das, sagte ein prominenter Physiker, wie ein Einhorn zu finden. So begegnen sich der alte Magier, der ja ein früher Naturwissenschaftler war, und seine lichtschnellen und -scheuen Kollegen.      

 

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