Der Stern, so fremd, so fern
Es ist schier unmöglich, dem Stern der Ungeborenen gerecht zu werden. Ich will es dennoch versuchen. Die 700 Seiten sind nicht einfach die Aufarbeitung von Werfels Dante-Lektüre, wie Wikipedia meint; es ist eine wahre Geschichte, die zum Weiterdenken anregt. Wir greifen einige Aspekte heraus aus der Reise von F. W. hunderttausend Jahre nach vorn.
Wie schon erklärt, schrieb Werfel nur realistische Romane. Es beschleicht einen die Ahnung, er könnte einer anderen Dimension als Sekretär gedient haben. Denn einige seiner Bücher sind außergewöhnlich wichtig und wurden so einflussreich, wie es nicht leicht einem Schriftsteller gelingt. Franz Werfel war gerührt vom Schicksal armenischer Kinder und recherchierte den Mord der Türken an einer Million Armenier im Jahr 1916, den der Deutsche Bundestag 100 Jahre danach als Völkermord benannte. Die Juden verehrten das Buch Die vierzig Tage des Musa Dagh (ein Berg in Armenien), weil es sie an ihre Gettos im Krieg erinnerte. Im Exil fasste Franz Werfel dann den Plan zu dem Buch Das Lied der Bernadette über das Mädchen, der in Lourdes die Jungfrau Maria erschien, auch das ein engagiertes, tief empfundenes Buch.
Im Stern der Ungeborenen trifft F. W. in der Zukunft ein und wird begleitet von seinem Jugendfreund B. H., der ihn — ja, etwa wie Vergil in Dantes Göttliche Komödie den Erzähler geleitet — führt. Reisen sind einfach mit einem Gerät, bei dem man das Ziel einstellt, das einem sodann blitzschnell entgegenkommt. Der Erzähler trifft Engel (melangeloi), die einen an Swedenborgs Buch Himmel und Hölle erinnern (das man auch als selbst erlebt rezipieren, das man ernst nehmen sollte). Dann wendet er sich an einen imaginären Skeptiker, um ihm zu sagen:
Halten Sie etwa für keinen naturwissenschaftlichen Gewinn die völlig neue Erfahrung, dass es eine transzendentale Materie gibt, die jenseits der Elektronen und doch diesseits des reinen Geistes liegt, eine Brücken-Substanz gleichsam, die allverkleidungsfähig den leersten Abgrund der Schöpfung ausfüllt? Dehnt sich nicht gerade dort das Reich aus, wo wir Toten leben, das heißt aufgehoben sind, und von wo man mich selbst, ohne an die Folgen zu denken, weggelockt hat?
Das ist bedenkenswert. Die jenseitige Welt ist eine Geistige Welt, in der die Substanz direkt auf die Gedanken reagiert, etwa ein Haus sofort dasteht und je nach Wunsch ausgestaltet werden kann. Die Gedanken gestalten die Materie, die ebenso fenstofflich sein wird wie die Körper dort und die man getrost transzendental nennen kann. Wie im Reich der Toten sehen die Leute des fernen Sterns jung aus; die Urgroßmutter ist attraktiv, mag sie auch 180 Jahre alt sein. Es gibt keine Gebrechen, und man muss nicht viel zu sich nehmen. Es gibt keine Ökonomie. Man lebt und befasst sch mit Alltagsdingen, die im übrigen (bei Swedenborg zu lesen) den Engeln auch nicht fremd sind.
F. W. wird als Botschafter zu einer Hochzeit geladen, und die Braut Lala verliebt sich prompt in ihn, wogegen er sich nur schwach wehrt. Er besucht den Dschebel (Berg), ein gigantosches Kristallgebilde, in dem der Herrscher der Welt und die Weisen leben. Jenseits davon: ein Dschungel, der auf manche lockend wirkt, mit groben Gestalten, die Haustiere halten.
Dann geschieht bei einer glanzvollen Feier eine Katastrophe, ein Attentat, das diese ganze Welt umstülpt, und damit trudelt alles schnell und immer schneller seinem Ende entgegen, dem F. W. durch die Rückreise (gestern geschildert) entrinnt. Wirklich? Der Autor war dann ja wirklich tot, und wenn seine Geschichte wirklich war, könnte er von neuem dorthin eingeladen worden sein, weil man ihn mag.
Überhaupt, dieser Gedanke der hunderttausend Jahre! Unsere Zeitrechnung umfasst rund 2000 Jahre; die Keilschrift der Sumerer ist etwa 6000 Jahre alt. (Links: erste Buchstaben, gesehen im British Museum, London) Doch Überreste des Homo sapiens, gefunden in Äthiopien, legten nahe, dass der erste Homo sapiens (der kluge Mensch, der mit Bewusstsein) vor 200.000 Jahren entstand, bis im Juni 2017 Funde aus Rabat in Marokko zeigten, dass dort schon vor 300.000 Jahren der Homo sapiens unterwegs war. Von diesem Blickwinkel aus scheint es vorstellbar, dass er auch in 100.000 Jahren noch dahintrottet oder -gleitet, und seine Welt wird natürlich anders sein als die heutige.
So wie die Welt Werfels anders war als die heutige. 80 oder 100 Jahre sind nichts, doch man spürt sie. Franz Wefel schrieb meisterhaft, aber eben so, wie man damals schrieb, und so erinnert das an Thomas Mann und Theodor Fontane, mit gedrechselten Sätzen und ausufernden Dialogen, doch man gewöhnt sich daran. Und morgen ist Goethe-Geburtstag, vergessen wir das nicht! Damals konnte man noch schreiben, heute herrscht Wüste.