Verwandtenbesuch

Kommt heute in unseren Breiten (zum Glück) nicht mehr oft vor, der Verwandtenbesuch. Familien stehen sich eher fern, und muss man sich mal treffen, soll es nicht zu eng werden. Die meisten haben große Wohnungen; oder die Verwandten gehen ins Hotel. Anders war das früher, zumal im kommunistischen Osten, und ich stieß auf eine Geschichte des polnischen Satirikers Jerzy Wittlin, die mich lauthals lachen ließ, und das kommt nicht oft vor: darum das Stück hier auf manipogo.

047Jerzy Wittlin wurde 1925 in Lwow (Lemberg) geboren und starb 1989 in Warschau, am 20. Oktober, und so bekam er wohl noch mit, wie in den Wahlen vom 4. Juni die Polnische Arbeiterpartei unterging und Tadeusz Mazowiecki Ministerpräsident wurde. Es war noch vor dem Mauerfall der erste Dominostein, der fiel; es war der erste Stein, der aus dem Ostblock brach, und der Rest sollte folgen.

Wittlin schrieb in 20 Jahren 20 »Vademeca« (ein Vademecum ist ein Leitfaden und heißt auf Lateinisch »geh mit mir«), also kleine Ratgeber für viele Lebenslager, vom Vademecum für den Graphomanen (1965) über das erotische Vademecum (1974) bis hin zum Vademecum des gesunden Menschenverstands (1985). Das war lange vor der Ratgeberschwemme hier im Westen.

Satirische Texte von Jerzy Wittlin stehen in dem Band Leben und leben lassen, erschienen auf Deutsch 1977 in Berlin, und die Herausgeberin meint, die Texte würden DDR-Bürger sicher ansprechen. Der folgende Text ist ein schönes Beispiel für Literatur, da sich im Text ein zweiter Sinn verbirgt, der groß und größer wird: ein Subtext, der zu einem double bind führt. Ein double bind ist ein unauflöslicher Widerspruch, der einen in die Krise führt: Wenn etwa die Eltern etwas verbieten, das sie selber tun oder wenn jemand mit der Hand nach rechts weist und sagt: Gehen Sie nach links. Bei Wittlin ist das köstlich. Es ist das Muster Nr. 1 für einen Privatbrief, betitelt mit

Verwandte äußern ihre Freude über die Aussicht eines baldigen Wiedersehens

Meine Lieben!
In unseren Haus herrscht große Freude! Endlich wollt ihr uns einmal besuchen. Nach so langen Jahren werden wir euch nun schon in einigen Tagen bei uns haben — es gibt schwerlich eine schönere und angenehmere Überraschung!
Unsere ganze Wohnung steht euch zur Verfügung! Überdies kam die freudige Nachricht von euch zu einem Zeitpunkt, wo wir besonders des Trosts bedürftig sind. Unser Sohn Bolek nämlich, der so groß geworden ist, dass ihr ihn nicht wiedererkennt, hat — wahrscheinlich aus der Schule — Typhus mitgebracht und liegt zu Hause, weil wir ihn nicht ins Krankenhaus geben wollen. 
Unsere Tochter Agnieszka (auch sie ist groß und hübsch geworden. Eure Tereska, die wir voller Freude wiedersehen und in die Arme schließen wollen, wird eine prächtige Spielgefährtin haben) liegt schon die zweite Woche mit Typhusverdacht zu Hause, und die Ärzte meinen, es könne noch etwas Schlimmeres sein. Unsere Einraumwohnung mit der winzigen, aber urgemütlichen Kochnische wird euch gewiss gefallen, auch wenn sie noch nicht renoviert ist. Das aber ist dringend notwendig, denn weiß Gott woher haben sich überall ganze Scharen von Wanzen eingenistet. Wir warten mit der Renovierung bis zum Sommer, denn die Zentralheizung ist kaputt, und es würde jetzt nicht trocknen. Telegrafiert, mit welchem Zug ihr kommt, wir werden am Bahnhof sein.

Tausend Küsse!
Bis zum baldigen Wiedersehen …

 

 

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.