Nebelreich

Wieder ein wunderbares Stück Dichtung in einem Roman entdeckt, so wie ich kürzlich in Musils Mann ohne Eigenschaften fündig geworden war. Die neue Stelle stammt aus dem Roman Die Pulvermühle von Gertrud Fussenegger (Österreicherin wie Musil, geboren in Pilsen), die von 1912 bis 2009 lebte. Dann liest man über ihr Leben und stellt fest, dass sie glühende Nationalsozialistin war. Wieder (wie bei Musil) müssen wir uns mit dem Bösen  herumschlagen. Was tun?

Bei Wikipedia steht, Frau Fussenegger habe einen Hymnus auf Hitler verfasst, sei Parteimitglied gewesen und habe auch etwas gegen Juden gehabt. Bedauerlich. Jetzt weiß sie vielleicht mehr, doch sie wurde schon in ihrem langen Leben beharrlich mit ihrer Vergangenheit konfrontiert und angegriffen; sie hatte genügend Gelegenheit, darüber nachzudenken, und man könnte nun heraussuchen, was sie selber dazu gesagt hat, aber dazu habe ich keine Lust.

Ich kann nur sagen, dass mir in dem Roman von 1968 (Die Pulvermühle), in dem sie vermutlich ihre persönliche Geschichte (ihre Ehe von 1945 bis 1957) aufarbeitet, bis Seite 270 (von 370 Seiten) nichts unangenehm aufgefallen war, denn sonst hätte ich das Buch weggelegt. Nehmen wir also die Stelle als ein schönes Stück Literatur und Naturdichtung und denken wir auf neuen Wegen.

IMG_4106Wir sind einmal in der Nacht, bei Mondschein, durch wallende Nebelschwaden über die Seiser Alm gewandert. Es war zu Pfingsten, und das ganze Gelände war bleich von Blumen. Millionen Sterne breiteten sich wie ein Teppich vor uns aus. Der Nebel war in tausend winzige Schleierfetzen zerpflückt, flog vor uns her und hinterdrein, wie ein Chor von Geistern. Dann IMG_4100und wann tauchte der Schlern vor uns auf, eisblau funkelnd — droben lag noch Schnee. Es war, als hätten wir uns in eine ferne Welt verirrt — und doch fühlten wir, diese Welt war unser, ganz anders unser als jede andere Welt, wir kehrten heim in ein Reich, das nur auf uns gewartet hatte, das nur dazu da war, uns zu empfangen, die längst erwählten letzten Erben, von Geburt vorherbestimmt, diese Heimkehr zu vollziehen in ein Geheimnis, das nur der Tod sein konnte: Eros-Thanatos.

Wir trieben mehr dahin als wir gingen, dahin und dorthin gezogen, als schaukelten uns die Wellen des Geländes einander zu. Was wir sprachen, schien wie von Ewigkeit vorgeformt, Strophen eines Textes, der aus anderen Sphären stammte und sich jetzt wie leuchtende Flocken auf unseren Lippen niederließ. Wir klangen wie zwei Geigen, die ein Meister aufeinander abgestimmt hat, und wie Gesang, der sich selbst singt, eine sich selbst immerfort übertreffende musikalische Figur. … Auf einem mondbleichen Fleck Rasen knapp über dem Abgrund umarmten wir einander …    

 

Man erinnert sich an manch ein Erlebnis, bei dem alles stimmte. Das Liebespaar trägt seine Welt mit sich, geht hinaus und fühlt sich wohl in einer fremden Welt (je fremder, desto besser, denn das Paar lebt seinen Gefühlen und abseits der Welt) und kehrt zurück in die eigene. Ein innig verliebtes Paar — das mag ein Vorgeschmack aufs Paradies sein, da sich zwei Seelen vereinen und einen dritten feinstofflichen »Körper« erschaffen als ihr geistiges ureigenes Heim. Auch eine Erzählung über solch ein Erlebnis beschreibt einen Zauberkreis und schafft eine Atmosphäre, wie es Bilder einfach nicht können. Jemand hat einmal gesagt: »Gott ist vielleicht am ehesten eine Atmosphäre.« Er ist nicht greifbar, doch überall und in allem, tränkt alles und trägt alles. Wenn wir uns vorstellen, dass wir hier und jetzt uns in einer Atmosphäre bewegen, die heilig ist und von uns gleichwohl mitgestaltet wird, da wir dazu bestimmt sind, Gott zu helfen, — dann sind wir ein Stück weitergekommen.

 

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