Moralische Behandlung
Ich finde, Publizistik (und auch der sogenannte Blog) sollte bisweilen auch etwas Positives verbreiten, das Mut macht. Heute ein Beitrag zum Thema mutige Männer.Keine Soldaten werden hervorgehoben, sondern mitfühlende Menschen. Philippe Pinel und Samuel Tuke haben es erreicht, dass die Irren Ende des 18. Jahrhunderts besser behandelt wurden: wie Kranke, nicht wie Verbrecher.
Die Taten der beiden werden in dem Buch Wahnsinn und Gesellschaft von Michel Foucault gewürdigt. 200 Jahre lang hatte man die Verrückten interniert oder in Gefängnisse gesperrt, und da wurde kein Unterschied gemacht, ob jemand antisoziales Verhalten an den Tag legte (Foucault nennt das Unvernunft) oder ob er wirklich wahnsinnig war, was immer das heißt. Es ist ein Thema, das einen andauernd beschäftigt.
Philippe Pinel kam 1845 zur Welt und entdeckte erst mit knapp 40 Jahren die Welt der Psychiatrie. Später schuf er eine umfangreiche Klassifikation (nosographie) der psychischen Krankheiten und wurde damit zum Begründer einer wissenschaftlichen Psychiatrie. 1792 wurde er Leitender Arzt am Krankenhaus Bicêtre bei Paris. Die Legende will es, dass der gelähmte Politiker Couthon, der viele Menschen aufs Schafott geschickt hatte, die Anstalt aufsuchte, weil er meinte, dass sich dort Regimegegner verbergen. Geschockt darüber, wie die Irren behandelt werden, fährt er wieder ab.
Michel Foucault schreibt dazu, der Wahnsinn sei »auf die Seite der Wächter gewechselt, und diejenigen, die die Irren wie Tiere einschließen, verfügen jetzt über die ganze animalische Brutalität des Wahnsinns. In ihnen tobt das Tier, und bei den Geisteskranken erscheint dies nur noch als verwirrter Reflex.« Ähnlich in den Konzentrationslagern der Nationalsozialisten: Diejenigen, die die dort eingeschlossenen »Untermenschen« peinigten und ermordeten, waren zu den echten Untermenschen geworden.
Kaum ist Couthon fort, hält sich Pinel für ermächtigt, die Irren zu befreien. Er löst einem Hauptmann die Ketten, der bereits einen Pfleger erschlagen hatte und verspricht ihm einen Spaziergang im Hof. Der Mann rennt hinaus, jubelt, wie schön das sei, blieb zwei Jahre ruhig und machte sich in der Anstalt nützlich. Den Soldaten Chevigné macht Philippe Pinel, nachdem er ihm die Fesseln abgenommen hat, zu seinem Angestellten. Später, als Pinel in der Salpetrière arbeitet, setzt er weiter die »moralische Behandlung« fort, kümmert sich also um die Seele, statt einzuschließen und zu strafen. Der Arzt und Philanthrop starb 1826.
In England schuf Samuel Tuke (1784-1857) sogenannte retreats, in denen er die Irren gut behandelte. Er selbst hat beschrieben, wie man einen Mann, der mit Handschellen, Ketten und sogar mit Seilen gefesselt war, zu ihm brachte. Man nahm ihm sofort alle Fesseln ab und ließ ihn mit den Aufsehern speisen. Der Intendant sprach davon, dass Freiheit und Bequemlichkeit herrschaten und dass es von ihm abhinge, dem Kranken, ob man zu Zwangsmaßnahmen werde greifn müssen. Der Kranke versprach, sich Mühe zu geben. Tukes York retreat besteht noch heute. Er selbst ist auf dem Krankenhausgelände bestattet.
Keine Frage, die Behandlung der Geisteskranken bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts war eine Schande. Auch in Mitteleuropa herrschte da Mittelalter. Frabnco Basaglia setzte 1978 die Schließung der großen italienischen Anstalten durch und förderte eine gemeindenahe Versorgung. Das Aufkommen der neuer pharmazeutischer Mittel half obendrein, war aber Fluch und Segen zugleich, denn nun muss man sich nicht mehr viel Mühe mit der Therapie geben, ein paar Pillen bringen die psychisch Kranken zur Ruhe.
Illustrationen: Die kleinen Bilder zeigen das ehemalige Irrenhaus Rizzeddu auf Sardinien (von www.sardegnaabbandonata.it), die größeren Exponate aus einem Museum in Rom, das die Geschichet der Psychiatrie zeigt.