Die Stadt Arras, um 1460

Heute ist der Tag der deutschen Einheit. Dazu möchte auch manipogo etwas sagen. Das übernimmt Adrzej Szczypiorski mit seinem Buch Eine Messe für die Stadt Arras, das bereits 1971 erschien. Wikipedia hat einen Eintrag dazu, der jedoch, wie ich finde, mehr verschleiert als er aussagt, denn das Buch ist klar: Da wird etwas so versteckt, dass es gefunden werden muss; aber wenn man nicht finden will, findet man es nicht.

004Die Handlung: Der Erzähler ist Jean, ein Vertrauter von Vater Albert, der als eine Art christlicher Guru den Rat der nordfranzösischen Stadt Arras leitet. Jean steht aber auch mit David auf gutem Fuß, dem Fürstbischof und Vorgesetzten Alberts. 1458 wird ein Jude eingekerkert und nimmt sich das Leben. Die Sache verfolgt die Stadt, und drei Jahre später brechen plötzlich Pogrome los, und Hexen und Juden werden gemartert und getötet. Irgendwann macht David dem ein Ende und zieht einen Schlussstrich: Wir vergessen alles, sagt er, und fangen neu an.

Über allem schwebt die Furcht vor dem Herrn, wie es im Mittelalter wohl war. Was ist der Wille des Herrn? Hat er etwas so gefügt oder dürfen wir selbst handeln (auch vorgebend, den Willen des Herrn zu erfüllen)? Verwirrung der Geister. Diese Verwirrung wird von Albert geschürt, der wie ein Verrückter spricht, wenn er meint, die Menschen müssten erst leiden, und danach würden sie erst das Schöne erkennen. Er sagt:

Nichts Schwierigeres gibt es, als Gott für sich zu gewinnen! Ihm nach folgen die Menschen seit undenklichen Zeiten, immer voran, durch Berge von Leichen und Verwundeten hindurch, im Getöse des Schlachtengetümmels, inmitten von Gemetzel, Mord und Brandschatzung. Ach, wie unermüdlich jagen sie dieser großen Sehnsucht nach. Und schlecht handelte der, der sie zurückzuhalten suchte.

Das ist pervers, denn Albert hält sie nicht nur nicht zurück, sondern jagt sie in den Wahn, indem er wie ein Gott die Welt neu definiert: nach seinem Gutdünken. Er zwingt dem leichtgläubigen Volk seine Anschauung auf.

Es ist nicht wichtig, was ist, sondern was für einen Namen die Sache trägt. … So gebe ich allen Taten dieser Stadt einen Namen. Das, was jetzt in Arras geschieht, habe ich Freiheit genannt … Ich habe die Stadt gezwungen, das zu tun, was sie tut, und sie will das tun, was sie tun muss. Wenn du darin nicht Harmonie und den einzzigen Weg zur Erlösung siehst, bist du blind, taub und stumm. Ich nehme die Last der Sünden dieser Stadt auf mich und bin bereit, dafür zu leiden wie keiner je zuvor. Ich habe sie gezwungen, zu tun, was ich befehle, und sie finden darin ihre eigene Lust und Freude.

DSCN4894Dieses Geheuchel war genau der Stil des damaligen »Führers« und Himmlers, die dem deutschen Volk ihre Version verkauften und es anspornte, damit am deutschen Wesen »die Welt genesen« könne. Das in Versailles vermeintlich gedemütigte Volk solle aufstehen und sich den ihm zustehenden Platz erobern: ganz vorn in der Welt. Dazu müssten leider üble Dinge geschehen, meinten die beiden, es sei unumgänglich, aber es müsse sein … Mit dieser Lüge trafen sie einen wunden Punkt bei den Deutschen, die notorisch autoritätsgläubig und gehorsam sind. Wie fürchterlich die Rede von Himmler vor SS-Oberen in Posen und die Aufhetzung Goebbels zum totalen Krieg im Berliner Sportpalast! Ein Volk glaubte klaglos den Namen, den die Nazis ihren Zielen gaben. Der Überfall auf die Sowjetunion war demnach Gewinnung von Raum im Osten, der Mord an den Juden die Vernichtung von Volksschädlingen. Albert ist wie Hitler.

Dann stirbt endlich Albert. Und Fürstbischof David reitet ein, lange nach den Pogromen und den Morden. Nun denken wir daran, dass Szczypiorski sein Buch 1971 geschrieben hat. Damals wollten die Deutschen von ihren Untaten immer noch nichts wissen. Im Auschwitrz-Prozess 1964 wurden milde Strafen verhängt. Deutschland blühte auf und wollte den damaligen Tod von Millionen nicht zur Kenntnis nehmen. Man tat so, als hätten die Nationalsozialisten ein ganzes Land in Geiselhaft genommen. 1979 erschien das Buch auf Deutsch, und nicht zufällig erschienen auch 1979 die ersten Berichte von Überlebenden der Konzentrationslager, etwa Sonderbehandlung von Filip Müller.

David reitet also ein. Auch er definiert die Welt, wie es ihm gefällt. Er zertritt leichten Fußes die Wahrheit.

DSCN4026David vergab der Stadt ihre Sünden und segnete sie; alle Prozesse erklärte er für null und nichtig … Der Bischof sagte: »Was geschehen ist, ist nicht geschehen, und was war, ist nicht gewesen!« Und wieder segnete er die Stadt, für die er vom Herrgott die Vergebung der Sünden und die Tilgung jeglicher Schuld erwirkt hatte.

So hielten es auch die Deutschen nach dem Krieg: Schwamm drüber! Doch Jean erträgt es schließlich nicht mehr. Bei einem Bankett bricht es aus ihm heraus:

Denn die Wahrheit ist, dass das Geschehene geschehen und das Gewesene gewesen ist! Eure Herrlichkeit glaubt, dass ein Zeichen mit der Hand genüge, damit Tränen versiegen, Blutflecke verschwinden und die Gewissen wieder rein wie Schnee sind. Aber das stimmt nicht! … Wozu also hat der Sohn den Vater den Stadtknechten ausgeliefert, wozu hat man die jüdischen Gehöfte verbrannt, wozu die Leiber derer, die die Stadt für Abtrünnige hielt, in Fetzen gerissen? In die tiefsten Tiefen sind wir hinabgestiegen, um uns zu erhöhen — und ihr, Fürst, sagt uns jetzt, dass ein derartiges Unterfangen vergebliche Liebesmüh sei! Das darf nicht so sein in einer von Gott geschaffenen Welt — und wenn nicht von Gott, so vom Teufel geschaffen. Und wenn auch nicht vom Teufel, so von uns selber! Euer Herrlichkeit, habt Mitleid mit dieser unglückseligen Stadt, die so eifrig ihren Weg gesucht hat, und sagt ihr nicht, dass der einzige dem Menschen verbleibende Weg zu Falkenjagden oder in den Festsaal führe … Denn das darf nicht sein. Anders müsste die Erde versinken, die Sterne müssten verlöschen, die Bäume verdorren. Das darf nicht sein, das darf nicht sein, das darf nicht …

Wer denkt noch darüber nach? Wo lag der Sinn? Wenn niemand die Schuld auf sich nimmt, war alles sinnlos. Geschah alles, damit Rentner heute im Volkswagen Touareg genütlich zum Supermarkt fahren und den Gepäckraum füllen können? Falkenjagden und der Festsaal? Was war der Sinn?

 

 

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