Denken um 1460
Warum muss man es sich immer schwer machen? Das ist der Sinn von manipogo: Wir wollen etwas herausfinden und beisteuern und fragen uns mal, wie man im Mittelalter gedacht hat und wie es kam zu den Sprüchen von Gottes Wille und Gottes Strafe, warum man so ausgedehnt diskutierte und so grausam war. Dazu schaue ich in eigenen Aufzeichnungen nach und zitiere aus ein paar Büchern; zu schwer wollen wir es uns auch nicht machen.
Das Mittelalter ist ja ein Kunstbegriff, der zum ersten Mal 1667 verwendet wurde. Im dunklen Zeitalter und sagen wir etwa vom Jahr 1000 bis zum Jahr 1600 stand immer noch die Kirche gegen die weltliche Obrigkeit in einem ewigen Kampf. Der Papst war Gottes Stellvertreter auf Erden; wenn er einen König exkommunizierte, war das ein herber Streich. Die Kirchenmänner hatten die Macht über die Herzen und die Deutungshoheit über die Ereignisse. Das Volk war ungebildet und fürchtete die ewige Höllenstrafe. Es folgte dem Priester unbedingt.
Die Grundfrage war die nach dem, was Gott will, was gottgewollt ist. Viele behaupteten, das zu wissen. Gott wurde zu einem Instrument, das auf die Welt einwirkt, und damit wurde er instrumentalisiert: für die eigenen Zwecke benutzt. Gott war Manipulationsmasse der Kirche. Georges Bataille schreibt in seiner Theorie der Religion:
Zweifellos liegt im Ersinnen eines »höchsten Wesens« der Wille, einen Wert zu definieren, der alle anderen übertrifft. Doch dies Verlangen nach Steigerung hat eine Herabsetzung zur Folge. … Durch die Annahme eines aufs Reale einwirkenden Macht des Göttlichen hatte der Mensch das Göttliche praktisch dem Realen untergeordnet. Dabei reduzierte er die göttliche Gewalt allmählich auf die Sanktionierung der realen Ordnung, denn nichts anderes ist die Moral …
Sanktionierung ist ein interessantes Wort: sanctus steckt darin, das Heilige, es bedeutet also die »Absegnung« eines Zustands. Gott musste dazu herhalten, das zu begründen, was die Kirche für ihren Machterhalt benötigte. Schon die Grundannahme, dass Gott in die Welt hineinwirke, ist kaum zu beweisen. Aber man glaubte es. Und man glaubte an die Schrift. Gott hatte die Gesetze auf Tafeln geprägt, und das Geschriebene war heilig. Michel Foucault schreibt in Die Ordnung der Dinge über die Zeit nach dem Entdecken des Buchdrucks:
Künftig ist es die Hauptnatur der Sprache, geschrieben zu werden. … Die Esoterik ist im sechzehnten Jahrhundert ein Phänomen der Schrift und nicht des Sprechens. Auf jeden Fall ist das Sprechen seiner Kräfte beraubt …
Dieser Primat des Geschriebenen führt zur Nichtunterscheidung zwischen Gesehenem und Gelesenem, dem Beobachteten und dem Berichteten. Da ging es wüst durcheinander, man wollte alle Ähnlichkeiten und Schattierungen eines Phänomens aufzeigen ohne jegliche Ordnung, und auch sonst wurde endlos geschwafelt.
Wissen besteht also darin, Sprache auf Sprache zu beziehen … Kommentar der Heiligen Schrift, Kommentar der antiken Texte, Kommentar dessen, was die Reisenden berichtet haben … Es gibt nur einen Kommentar, wenn unterhalb der Sprache, die man liest und entziffert, die Souveränität eines ursprünglichen Textes verläuft. … Die Sprache des sechzehnten Jahrhunderts … wird … in diesem Spiel festgehalten, in diesem Zwischenraum zwischen dem ersten Text und dem Unendlichen der Interpretation. Man spricht auf dem Untergrund einer Schrift, die mit der Welt eins ist. Man spricht unendlich über sie, und jedes ihrer Zeichen wird seinerseits zur Schrift für neue Diskurse. Jeder Diskurs aber wendet sich an jene erste Schrift, deren Wiederkehr er gleichzeitig verspricht und aufschiebt.
Der wichtigste Satz darin ist der über die Schrift, die »mit der Welt eins ist«. Damals waren die Worte die Dinge. Und betont wurden die Ähnlichkeiten und die Entsprechungen. Die Dinge waren da und die Worte, man sagte ja zu ihnen, und es herrschte ein gewisses Urvertrauen (das auch missbraucht werden konnte).
Wir wissen nur, wenn wir Foucault folgen, dass die Neuzeit heraufdämmerte. Ein Bruch trat ein, symbolisiert durch den Roman Don Quijotte, in dem der Erzähler über sich selbst spricht und ironisch wird und durch (1687) Isaac Newton, dem ersten Wissenschaftler. Eine Ordnung wurde erstellt, die Sprache wurde zur Repräsentation einer Repräsentation, zur symbolischen Darstellung von etwas, und damit entfernte sich das Denken von der Welt.