Niemand
Im Angebot der Kritischen Ausgabe plus sind alle meine Artikel der Kolumne Ausreißversuche (in den Jahren von 2006 bis 2012) noch lesbar. In einem geht es um das Unsichtbarbleibenwollen des Autors/der Autorin. Veröffentlicht wurde er heute vor neun Jahren, und ich befand ihn heute für exzellent. Da hatte mich gewiss die Muse geküsst! Darum heute zunächst der Link zu dem Artikel. Natürlich fand ich noch etwas dazu …
Der Niemand, der ein Dichter ist, bringt es jedenfalls zu etwas; er bringt etwas hervor. Das »Ich« ist bisweilen die gelungenste Maskierung und könnte auch ein Ich sein, dass sich Wir nennen darf. Beim schöpferischen Prozess wird der Autor offen für Einflüsse von woher auch immer, und warum sollten es nicht Impulse aus dem Inneren sein, in dem sich andere Dimensionen melden? Der Autor oder die Autorin macht sich im schöpferischen Prozess im Idealfall leer und lässt sich als eine Art Pressesprecher benutzen. Wer hat das gesagt: »Ich bin nur der Sekretär; die anderen befinden sich in der Ewigkeit«?
Eva Hesse hat sich über den US-amerikanischen Dichter Ezra Pound Gedanken gemacht, dessen Cantos weithin gerühmt wurden. Pound (1885-1972) bekannte sich zwar zum italienischen Faschismus, verehrte Mussolini und agitierte antisemitisch, das darf nicht vergessen werden. Von 1943 bis 1958 war er Insasse einer Nervenklinik in den USA, sonst wäre er wegen Landesverrats zum Tod verurteilt worden. Das alles ändert aber nichts an der Großartigkeit seines Werks.
Also nun Eva Hesse:
Denn die Gestalten seiner Dichtung sind nicht nur Aspekte seines Ichs, sondern zugleich im modernen Sinn des Wortes Personen, die sich durch ihn hindurch manifestieren. Im Gegensatz zu Yeats scheint ihm die Maske des fremden Seins weniger Selbst-Projektion zu sein als etwas tatsächlich Vorhandenes, etwas, das sich nur seiner Kräfte bedient, um »all die verlorene oder zeitweilig verschüttete Schönheit, Wahrheit, Beherztheit, Herrlichkeit von Griechenland, Italien, England und alldem« wieder Wort werden zu lassen. Auch hier, wie im Bereich der Historie, legt er seine Ehre darein, Entdecker zu sein. (…)
»Es ist, als glühte tief in uns das Ich
Als eine klare Sphäre, als gegossnes Gold,
Das irgendeine Form anfliegt:
Christus, Johannes, auch der Florentiner:
Und wie der leere Raum nicht ist, wenn eine Form
Ihn in sich fasst,
So hörn wir alle auf zu sein, für eine Weile,
Und sie, die Seelenfürsten, leben dann.«
Es ist die Eigentümlichkeit Pounds, dass er die poetische Inspiration als Besessenheit von einem anderen Wesen empfindet. In diesem Anderen, das sich ihm einhaucht, sieht er weder den eigenen Genius, noch die oftbemühten Musen. Was Gewalt über seine Seele bekommt und sie vorübergehend auslöscht, das sind die großen Helden, Dichter und Weisen der Vergangenheit. Wenn er in der Persona des Odysseus dem Polyphem auf seine Frage, wer er sei, die berühmte Antwort »Ich bin Niemand, mein Name ist Niemand« gibt, so bezieht sich das in einer Hinsicht auf seine besondere schöpferische Modalität. Er sieht sich nur als den Punkt, den Augenblick, durch den die Zeiten ziehen. (…)
(Nachwort zu Cantos I-XXX, S. 300/301, Verlag Arche Zürich 1964.)
Illustrationen: oben Statue für Dante, an der südlichen Adria, Mitte: Dostojewski-Statue, vermutlich in Berlin; unten: Darstellung im Maskenmuseum Ambalangoda, Sri Lanka.