Stella und Christian
Stella, was für ein schöner Name: der Stern auf Italienisch. Stella Petersen ist wunderhübsch, sportlich und Englischlehrerin. Sie und ihr Schüler Christian finden in Siegfried Lenz‘ Novelle Schweigeminute zusammen, die ich vor kurzem las. Sie ist von 2008 und also ein Spätwerk des großen Erzählers Lenz, der heute vor sechs Jahren gestorben ist, 88 Jahre alt.
Siegfried Lenz galt neben Günter Grass und Heinrich Böll als die wichtigste literarische Stimme im Nachkriegsdeutschland. Der Ostpreuße Lenz, ein Pfeifenraucher, wohnte in der zweiten Hälfte seines Lebens in einer Villa in Hamburg-Othmarschen. Immer geht es bei ihm um die See und um Schiffe; es ist das Ambiente seiner Gestalten.
Keine Schonung: Die schöne Stella ist gestorben, das Gymnasium rüstet sich zur Trauerfeier. Christian lässt seine geheime Liebe zu Stella,von der wenige wussten, Revue passieren. Das Buch ist nur 122 Seiten lang, und ich las immer nur Stücke, weil ich den Moment fürchtete, da Stella sterben würde und vielleicht auch, weil ich die Lektüre hinauszögern wollte, denn wunderbar leicht und unspektakulär und meisterhaft ist alles beschrieben.
Es gibt keine Dramen und Missverständnisse. Christian ist selbstbewusst und spontan, und Stella ebnet ihm den Weg. Eine Nacht verbringen sie nur zusammen, und kurz vor dem nächsten Wiedersehen passiert das Unglück, das Stella aus dem Leben fortnimmt, in dem sie ihren eigenen Weg ging, ihrem Herzen folgend. Damit wird sie zu einer Protagonistin, die man nicht schnell vergisst, und diese dürren Worte werden der Novelle natürlich überhaupt nicht gerecht.
Wir alle sind eins; und manchmal tritt ein unheimlicher Magnetismus auf und bringt zwei Menschen eng zusammen. Das ist immer ein Wunder. Sie werden eins. Zwei Männer aus dem Krankenwagen betten Stella auf eine Persenning so,
dass ihr Körper beim Aufheben umschlossen war, dann verständigten sich die Träger mit einem Nicken und bugsierten die Last von Bord. Bei ihren Bewegungen schaukelte Stellas Körper ein wenig, es fiel mir schwer, den Anblick zu ertragen, ich hatte auf einmal das Gefühl, selbst in der Persenning zu liegen.
Bei dieser Stelle fiel mir etwas ein. Ich hatte vor langer Zeit in meiner Kolumne Ausreißversuche für die Kritische Ausgabe plus den Artikel Verwandlungen gehabt. Es war der elfte Beitrag gewesen, im lang vergangenen März 2006, und ich hatte Beispiele aus der Literatur herangezogen, bei denen Menschen kurzzeitig das Gefühl hatten, in der Haut eines anderen zu stecken. Das ist wohl die Wahrheit: Wir alle sind eine Familie. Die Liebe, die unerklärliche, wirft ein Schlaglicht darauf und verwirrt, verzaubert und verwandelt uns.
24. März 2006 …der elfte beitrag