Jonas‘ Schlusswort

Wir waren ja gerade bei der Kunst, bei Bildern, beim Museum … Ein kleines Erlebnis in der Arbeit rief in mir eine Erzählung wach, an die ich viele Jahre nicht mehr gedacht hatte. Doch sie war in mir aufbewahrt, die Geschichte Jonas oder der Künstler bei der Arbeit von Albert Camus, Nobelpreis für Literatur 1957 (mein Geburtsjahr), drei Jahre danach tödlich verunglückt, 47 Jahre alt. 

Ich habe einmal Camus‘ Leben beschrieben, und sogar die Jonas-Erzählung kam einmal vor, jedoch etwas gravitätisch behandelt. Sie bedeutet mir also etwas. Nun, vier Jahre später, sind wir bodenständiger geworden und dennoch abgehobener — und wir werden sehen, dass das auch auf den Maler Gilbert Jonas zutrifft.

Ich hatte ins Altenheim meine Malsachen mitgebracht, also Wasserfarben und bunte Kreiden und Papier, aber viel ging nicht, man wurde immer wieder abgelenkt. Eine 95 Jahre alte Frau, früher Malerin in Berlin mit vielen Ausstellungen, saß vor einem Blatt. Normalerweise ist sie immer unterwegs, nun saß sie einmal zehn Minuten da, ergriff einen Stift, kritzelte sogar herum und deutete dann stolz auf zwei blaue Striche, die einen 100-Grad-Winkel  ausmachten. Hey! Das hab ich gemacht!

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Jeder Mensch ist in jeder Lebensphase vollkommen. Sie lebt in einer anderen Wahrheit. Die wunderbaren Landschaften, die sie gemalt hat, sind Vergangenheit. Sie will nicht mit den anderen essen und sagt über den Raum: »Ist ja ganz voll.« Sie bleibt ganz für sich.

Da kam mir mal wieder Gilbert Jonas in den Sinn. Der Ruhm ereilt ihn mit 35 Jahren, und Camus schildert den Fortgang. Bewunderer und Schüler umlagern ihn.

Seine Schüler erklärten des langen und breiten, was er gemalt hatte und warum. Jonas entdeckte so in seinem Werk eine Fülle von Absichten,die ihn ein wenig überraschten, und eine Unmenge Dinge, die er gar nicht hineingelegt hatte.

Jonas hatte Luise geheiratet und mit ihr drei Kinder, die ebenfalls herumtollen. Ihm ist alles recht. Er arbeitet, und jedes seiner Werke wird ein Erfolg.

Der Trubel um ihn herum nimmt zu. Irgendwann fängt er an zu leiden, wird menschenscheu, hat Angst vor Begegnungen, wird grüblerisch. In Stadtteilen, wo ihn niemand kannte, konnte er sich als der geben, der er war. Doch das Malen fiel ihm immer schwerer.

Die Räume der Wohnung sind hoch. Jonas packt sich Bretter und baut sich weiter oben einen Verschlag, einer mittelalterlichen Klause ähnlich, die er über eine Treppe erreicht. Dorthin zieht er sich zurück. Er spricht nicht mehr. Die Freunde und Besucher werden weniger. Er ißt nicht mehr und sagt, er müsse arbeiten. Wochen geht das so.

Ein strahlender Tag brach an, aber Jonas merkte es nicht. Er hatte das Bild der Wand zugekehrt. … Er sagte sich, dass er nun nie mehr arbeiten werde, er war glücklich. … Die Kinder tollten durch die Zimmer, das kleine Mädchen lachte, Luise nun ebenfalls, er hatte sie schon so lange nicht mehr lachen hören. Er liebte die Seinen! Wie sehr er sie liebte! Er löschte die Lampe, und da, in der zurückgekehrten Dunkelheit, war da nicht sein Stern, der unverändert leuchtete? Er war es, er erkannte ihn, sein Herz war voll Dankbarkeit, und er schaute ihn noch immer an, als er lautlos zu Boden fiel. 

In der Mitte der Leinwand stand etwas, das seinem Freund Rateau Rätsel aufgab: Hieß es solitaire oder solidaire? Es war in kleinen Buchstaben geschrieben. Einsam oder gemeinsam; einsam in der Gemeinsamkeit, vielleicht meinte er das? Er lebte in einem Holzbau, ganz bodenständig, der jedoch oben unter der Decke war, abgehoben. Unter den Menschen sein und dennoch Solist (wie das Wassermann-Sternzeichen); und ein Urtext, der zwiespältig bleibt und es auch bleiben soll, denn Künstlersein ist eine Gratwanderung.

Menschsein auch. Vielleicht doch Eremit werden? Wir wissen jedoch, dass es mit deren Weltabkehr nicht weit her war. Sie bekamen Besuche und wurden um Rat gefragt. Vielleicht kam auch mal eine einsame Frau vorbei. Ich werde einen Weg finden.

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