Dickinson 1883

Emily Dickinson, ja, die muss man kennenlernen. Sie lebte von 1830 bis 1886 in Amherst im US-Staat Massachusetts und verbrachte die meiste Zeit in ihrem Zimmer. Nur sieben ihrer 1775 Gedichte wurden zu Lebzeiten veröffentlicht. Nun gilt sie als wegweisende Lyrikerin, deren Stil unverkennbar ist. Zauberspruch-Charakter haben sie, hat jemand geschrieben. Humorvoll sind sie und voller Geist, doch stets ohne Überschrift.

Gegen Ende ihres Lebens litt Emily unter Vereinsamung und Trauer. Sie bereitete sich anscheinend schon auf das Ende vor. Die charmanten Gedichte aus früheren Zeiten werde ich sicher einmal bringen, heute jedoch, noch im November, kommen die drei kleinen Werke, die Emily Dickinson drei Jahre vor ihrem Tod schrieb. Mehr waren es anscheinend in jenem Jahr nicht. Da sie kurz sind, können wir auch das englische Original lesen. Dass sie so hektisch und abgerissen wirken, ist normal; so hat sie geschrieben.

Eine gewisse Verwandtschaft zur Droste-Hülshoff ist unverkennbar. Auch die deutsche Lyrikerin lebte (eine Generation früher) zurückgezogen und fand in der Kunst ihre Heimat, und beiden wurde schließlich Anerkennung zuteil.

Meine Gesamtausgabe englisch/deutsch (Emily Dickinson, Gedichte) ist von 2013, Fischer Taschenbuch Verlag, und Gunhild Kübler hat alle Gedichte übersetzt. Ich biete hier natürlich meine eigene Version an, mit Reim, das will schon mein Ehrgeiz.

022Who has not found the Heavens — below
Will fail of it above —
For Angels rent the house next our’s,
Wherever we remove —

Wer seinen Himmel nicht gefunden hier,
Wird droben ihn gleichfalls verpassen.
Denn Engel leben gleich die nächste Tür,
Wo wir uns auch niederlassen.

Sie schreibt: Engel »mieten sich im Nebenhaus ein und überall, wo wir hinziehen«. Sie sind bei uns, wir müssen sie nur erkennen.

 

service-pnp-ppmsc-02300-02311rWitchcraft was hung, in History,
But History and I
Find all the Witchcraft that we need
Around us, Every Day.

Die Hexerei ward aufgehängt in lang vergang’nen Jahren,
Doch jene Jahre und auch ich,
Wir können jede Menge Hexerei erfahren
Hier um uns, jeden Tag, so hüte dich.

Das so hüte dich habe ich wegen des Reims eingefügt und damit geschummelt; doch es ist ja eine Warnung. Man hat Hexen alles Mögliche angehängt, bevor man sie aufhängte, und vieles war erfunden. Doch Betrug, Korruption, Erpressung, Drohungen und subtile Intrigen gab es immer, weil jemand die Macht über einen anderen Menschen wollte oder geldgierig war, und das war im Geschäftsleben und im Liebesleben geduldet und entging der Ahndung.

 

fearless1Pass to thy Rendezvouz of Light,
Pangless except for us
Who slowly ford the Mystery
Which thou hast leaped across!

Geh hin zum Rendezvous mit deinem Licht,
Und denk an uns, wenn schmerzlos es gelungen;
An uns, die das Geheimnis prüfen, doch es kennen nicht,
Das du hast lässig übersprungen!

Die Zeile Who slowly ford the Mystery ist schwer zu übersetzen; in ford steckt die Furt drin, eine seichte Stelle im Wasser, die man durchwaten kann; wir grübeln den Geheimnis nach, das, wer das Rendezvous mit dem Licht (den Tod) hinter sich hat, kennt. Und wie richtig ist das geschildert! Wer aus den Jenseits berichtet, sagt meist, dass der Übergang rasch und unspektakulär vonstatten ging, man hätte sich nicht so viele Sorgen machen sollen! Es ist, wie von einem Zimmer in ein anderes zu gehen, wie das so schön Reverend Henry Scott Holland gesagt hat.

Mexico 041Ob man in diesem Zimmer ist oder in dem nebenan, spielt keine große Rolle. Eine Schweizerin, von Franz Dschulnigg interviewt, hatte im Alter von 20 Jahren eine Nahtoderfahrung, als sie auf dem Fahrrad von einem Auto gerammt worden war. Wie viele wollte sie unbedingt ins Licht, doch ihr Führer verwehrte es ihr. Er wollte sie allerdings überzeugen. Sie flogen also über eine riesige Stadt, die sie nicht kannte und in der eine Menge Menschen unterwegs war. Sie alle schauten plötzlich nach oben, und von jedem einzelnen Menschen ging ein Lichtstrahl aus, der sich mit den anderen vereinigte und ein Lichtnetz bildete, das sich um den ganzen Erdball legte. Dadurch begriff die Frau — und hier kommen wir wieder an den Anfang zurück, zum ersten Dickinson-Gedicht —, dass in jedem der göttliche Funke ist, und dass, alle vereinigt, schon hier auf Erden ein Reich der Liebe entstehen könnte; dass das Paradies eigentlich schon da ist und wir Erlöste sind, ohne es zu wissen.

 

 

 

Illustrationen: Oben Bayern, vermutlich Benediktbeuren; Mitte: indische Zauberfrau und Heilerin, fotografiert von Frank G. Carpenter (1855-1924), Dank an Library of Congress, Wash. D. C.; unten: Szenenfoto aus dem Film Fearless von Peter Weir (1994), in der Hauptrolle Jeff Bridges; und links unten: Mexiko-City (G. Braghetti).

 

 

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