Wanda Rutkiewicz
Wanda Rutkiewicz stand als erste Frau auf den Gipfeln von neun der 14 Achttausender dieser Erde. Der neunte, der Kangchendzönga (8586 Meter), steht etwas in Zweifel; 250 Meter unterhalb des Gipfels biwakierte sie noch am 12. Mai 1992, ohne Schlafsack und Verpflegung. Ihr Mitkletterer Carlos Carsolio kam von oben, sie hätte ihm folgen können, doch sie wollte es unbedingt schaffen; zwei Mal war sie schon gescheitert.
Schon einmal hatte ich einen polnischen Film über ihr Leben gesehen, aber nicht genug verstanden. Nun, beim zweiten Sehen, drängte sich da eine tragische Geschichte auf, die mich nicht losließ. Da gab es Bilder aus dem Jahr 1988 oder 1989 von ihr in einem Camp, und neben ihr saß ein gutaussehender junger Mann mit rosa Brille, der immerzu lachte. Eine polnische Bergfilmerin schilderte, wie glücklich Wanda gewirkt habe; mit diesem Mann könne man Spaß haben, er bringe sie zum Lachen, habe sie geäußert. Zwei Mal war sie jeweils ein paar Jahre verheiratet gewesen. (Oben rechts: ihr Porträt aus dem Archiv Wanda Rutkiewicz. Sie erinnert ein wenig an Ulrike Folkerts, die Lena Odenthal aus dem Tatort, nicht?)
Sie sagte:
Ich habe die Einsamkeit gewählt, weil ich nicht auf die Berge verzichten kann. Sie ziehen mich an wie ein Magnet. Ich möchte die Freude spüren, wenn die Atmosphäre bei Expeditionen übermütig, spannend und emotionsgeladen ist und ich auf dem Gipfel stehe.
Sie war immer rastlos unterwegs und sicher nicht der Typ für den »Ehehafen«. Teile ihrer Ausrüstung hatte sie in Kathmandu, Delhi und Islamabad deponiert. Dann traf sie den deutschen Neurologen Kurt Lyncke-Krüger aus Berlin, den erwähnten gutgelaunten Mann, und das schien die richtige Paarung zu sein. Der Traum dauerte nicht lange. Am 24. Juli, beim Abstieg vom Broad Peak (8014 Meter), glitt Kurt Lyncke auf 5600 Metern Höhe aus — eine dünne Schneeschicht tarnte vermutlich blankes Eis — und stürzte 400 Meter in die Tiefe. Neun Monate vorher war Jurek Kukuczka aus Kattowitz, der nach Messner als zweiter Mensch alle Achttausender bestiegen hatte, an der Lhotse-Süwand 2000 Meter tief in den Tod gestürzt.
Dennoch eroberte Wanda 1991 den Cho Oyu (8201) und die Annapurna-Südwand (8091), beides im Alleingang. Im Mai 1992 sollte der Kangchendzönga drankommen. Wanda Rutkiewicz wurde 49 Jahre alt. »Meine Furcht verschwand und ich verspürte eine große Freiheit« — dieses Wort (von ihr) steht auf einer Gedenktafel am Basislager des Kangchendzönga.
Karawane der Träume hatte sie den Plan genannt, in einem Jahr acht Achttausender zu besteigen, dabei von Berg zu Berg zu reisen und schnell hochzusteigen und schnell wieder herunter, um sich die langwierige Akklimatisation zu ersparen. Karawane der Träume heißt auch ein Buch von Gertrude Reinisch über Wanda Rutkiewicz aus dem Jahr 1997.
Die in Litauen geborene Frau begeisterte sich 1961, mit 18 Jahren, für den Alpinismus und setzte sich besonders für Frauenteams ein — das war damals unerhört. 1973 schaffte sie die Eiger-Nordwand, 1975 den Gipfel des Gasherbrum III (7952), 1978 die Matterhorn-Nordwand im Winter, 1982 und 1984 den K2 (8611), 1989 den Gasherbrum II (8034) und 1990 den Hidden Peak (8065), alles mit Frauen-Seilschaften. Wanda Rutlkiewicz stand 1978 als dritte Frau und erste Polin auf dem Gipfel des Mount Everest. Ihre Eindrücke damals:
Ich war so glücklich. Als ich mich umsah, meinte ich die Wölbung der Erdkugel zu erkennen … Am meisten bedeutet mir, dass ich als erste Person aus Polen den Everest besteigen hatte, und zwar am gleichen Tag, an dem Karol Wojtyla zum Papst gewählt wurde. Aber nicht nur ich, jeder hat in seinem Leben irgendwo einen Everest zu besteigen. Mein Erfolg war der Beweis, dass jedem gelingen kann, was man sich vornimmt.