Kollektive Unschuld
Vor 75 Jahren wurde Auschwitz befreit, und von da an wurde allmählich der Massenmord an den Juden offenbar, und die Deutschen waren gezwungen, sich damit zu konfrontieren. Das taten sie aber nicht. Niemand hat jedoch das ganze Volk kollektiv beschuldigt, was Samuel Salzborn in einem Buch von Mai 2020 hervorhebt; dennoch zogen es die Deutschen vor, die Kollektive Unschuld zu spielen, wie das Buch betitelt ist.
Ich hatte an Weihnachten an Auschwitz 1944 erinnern wollen, es dann aber bleibenlassen, weil es zu deprimierend ist. Darum heute einen Auszug aus einem Tagebuch, am 24. Dezember 1944 geschrieben:
Es liegt Schnee in Auschwitz. Die Dächer der Baracken sind weiß, aber nicht die Lagerstraßen. Immer noch sind es zu viele Häftlinge, die sich mühsam darüber schleppen. Ihre schweren Schritte hinterlassen nur Matsch, der dann gefriert und das Gehen noch schwieriger werden lässt: Überleben ist schwer geworden in Auschwitz in diesen Tagen, noch schwerer als es je war. Keine Nahrungsmittel erreichen mehr das Lager. Die Häftlinge müssen mit dem auskommen, was ihnen die SS zugesteht, und das ist viel zuwenig: das bisschen Suppe und Brot, viel zu wenig Wasser. Dazu kommt die Kälte, die durch die verschlissene Kleidung in jede Pore dringt: Die Häftlinge sind todmüde. Jeden Tag ist in den so genannten Stärkemeldungen der Erschöpfungstod von zwanzig bis dreißig Häftlingen verzeichnet.
An diesem Weihnachten kommt es besonders schlimm: 300 Frauen aus dem Kommando Weberei — sie fertigen dort Stoffe — erhalten Befehl, sich zu einem Bad in die Sauna zu melden. Ihre Kleidung wird ihnen abgenommen, um sie zu desinifzieren. Nach der Dusche müssen sie zurück in ihre Baracken gehen, barfüßig über die gefrorenen Lagerstraßen. Es ist ein weiter Weg, mindestens ein Kilometer. Und auch in den Baracken können sie sich nicht aufwärmen. Die Baracken sind unbeheizt, ungehindert pfeift der Wind durch die Ritzen zwischen den Bretterwänden. Ein strenger Winter in Auschwitz. In der Nacht fällt die Temperatur aus minus 30 Grad. Stundenlang müssen die Frauen auf neue Kleidung warten. Die meisten von ihnen werden an Lungenentzündung erkranken, viele werde sterben. Aber sie haben an Weihnachten gebadet, so wie es sich nach Meinung der SS gehört.
Der Krieg war verloren, die Russen kamen von Osten, das Ende war in Sicht, doch nicht das Ende der Qual für die letzten Auschwitz-Häftlinge. Nun wollten die Verbrecher die Lager leeren und abhauen, aber vorher noch alles vernichten, was ging. Das Lager Stutthof an der Ostsee wurde aufgelöst, und noch am 31. Januar trieben die Schergen 3000 jüdische Frauen in Richtung Ostsee und erschossen sie.
Unendliches Leid wurde über diese armen Menschen gebracht, und die Brutalität, mit der die deutschen Bewacher zu Werke gingen, war beispiellos. Frauen wurden niedergeschossen, Kinder erschlagen, und nur, weil es hieß, die jüdische Rasse wolle die deutsche vernichten; man erklärte den systematischen Massenmord zu einem Präventionskrieg. Die Juden wurden zu Nicht-Menschen erklärt, was viele als Freibrief dafür verstanden, sich bestialisch aufzuführen. Mit deutscher Gründlichkeit wurde der irre Führerbefehl, die jüdische Rasse physisch zu vernichten, in die Tat umgesetzt, und die Hölle auf Erden, die drei Jahre lang in Arbeits- und Vernichtungslagern in Polen herrschte, wird niemals, NIEMALS vergessen sein. (Bild: die Gaskammer in Strutthof/Vogesen)
Samuel Salzborn, 1977 geboren, zeichnet nach, wie die Deutschen die Erinnerung abwehrten und sich selbst zu Opfern stilisierten. 75 Milliarden in heutigen Euro leisteten sie an finanzieller »Wiedergutmachung« an israelische Opfer, doch 67 Milliarden Euro spielten sie den Vertriebenen zu, an Deutsche, die ihre Heimat in Polen und Tschechien verlassen mussten. Ranghohe Nazis fanden einen Platz in der Regierung, andere konnten fliehen (auch mit Hilfe des Vatikan und des CIA), und wenige kamen vor Gericht. Von den 1000 Bewachern im Stutthof an der Ostsee wurden 126 verurteilt, oft zu geringen Strafen. (Bild: die zentrale Holocaust-Gedächtnisstätte in Berlin)
Und der Antisemitismus gärte weiter, gärt bis heute: 1985 schrieb Rainer Werner Fassbinder ein Stück über einen reichen Juden mit widerlichen Anspielungen, 1986 drückte der Schriftsteller Martin Walser bei einer Rede seinen Widerstand gegen die »Auschwitz-Keule« aus, und am 10. November 1988 versuchte Philipp Jenninger vor dem Bundestag die Nationalsozialisten in Schutz zu nehmen, doch es waren ungeheuerliche, missverständliche Worte, die zu seinem sofortigen Rücktritt als Bundestagspräsident führten.
Nun verblasst die Erinnerung allmählich. Was geschieht mit einem Gebirge von Schuld, das niemand übernehmen will? Die Generationen nach den Hingemetzelten sind traumatisiert, die Generationen nach den Tätern lebt weiter, wird aber auch nicht richtig froh. Die 1960-er und 1970er Jahre seien in Deutschland ohne Glanz verlaufen, schreibt Raul Hilberg in seinem Standardbuch über die Vernichtung der europäischen Juden, und Alexander Mitscherlich ergänzte, die Deutschen hätten sich in ihren Egoismus zurückgezogen. Da sie harte Arbeiter und systematische Denker sind, gelang ihnen der Aufstieg zu Wohlstand. Doch so richtig dachten sie nie über die 12 Jahre des Dritten Reich nach. Ein Schatten liegt über dem Land, immer noch. (Bild: Gedenken in Buchenwald)
Im November, als ich Urlaub hatte, las ich die drei Bände Hilberg genau, sah Filme (Ostatni etap) und recherchierte im Hintergrund. Da kam alles heraus. Wenn man dann Samuel Salzborn liest, versteht man mehr, doch man ist auch irritiert, wie abstrakt die Ausführungen bleiben. Da wird geistiges Gelände kartographiert und die Abwehr der Erinnerung an die Shoah erläutert, bis man nicht mehr weiß, was da eigentlich war.
In der luftigen Höhe der Abstraktion verflüchtigt sich die Anschauung. Denken wir an die 3000 Frauen, die an der Ostsee erschossen wurden, bis das Wasser rot war vom Blut; an das Kind in Warschau, das flehte »Ich kann arbeiten« und dennoch von einem SS-Mann niedergestreckt wurde; an die Schreie derer, die im Gas erstickten, die Schreie Hunderttausender, die in Treblinka noch einen Kilometer weiter zu hören waren.
Dazu: Sonderbehandlung (auf Kritische Ausgabe plus)
Letzter Satz: »Dann fuhr ich mit dem Lift nach oben.«