Anatoli Nikolajewitsch Bukrejew

Drei Männer klettern am Weihnachtstag 1997 zu einem Grat hoch, der sie von Süden zum Gipfel der 8091 Meter hohen Annapurna führen soll. Sie haben fast 6000 Meter Höhe erreicht, als der erste der drei, der Italiener Simone Moro, eine Explosion hört. Gleich danach rast eine weiße Wand  fauchend auf sie zu. Es dauert drei Sekunden, dann fegt die Lawine sie hinab. Um sie dreht sich alles, alles wird ihnen weiß. Uhrzeit: 12.27 Uhr.

2020-12-02-0002Simone Moro fliegt fast 500 Meter hinunter, kann sich aber aus den Schneemassen befreien. Von den beiden anderen kam kein Lebenszeichen. Bis heute fehlt von ihnen jede Spur. So starben an Weihnachten der Bergsteiger Anatoli Nikolajewitsch Bukrejew, der drei Wochen später 40 Jahre alt geworden wäre, und der Kameramann Dimitri Soboljew. Geschildert wird das Unglück im Abspann des Buches Der Gipfel (im Original: The Climb), in dem Bukrejew mit Hilfe des US-Autors G. Weston DeWalt seine Version der Ereignisse vom 10. Mai 1996 am Mount Everest erzählt.

Das liest man mit wachsender Spannung, aber auch mit Bangigkeit, da der Ausgang der Geschichte bekannt ist. Wie in einer griechischen Tragödie schürzt sich der Knoten, und als Leser empfindet man die Ausweglosigkeit mit, in 8700 Metern Höhe bei Schneesturm und ohne Sauerstoff zu liegen, aneinandergepresst, in der Hoffnung auf Wetterbesserung oder auf einen rettenden Engel. Ein Alptraum.

Zwei Gruppen wollten hoch zum Everest und hatten sich gut vorbereitet. Zwei Abenteuer-Firmen aus den USA wollten Kunden das unvergleichliche Erlebnis bieten und nahmen von jedem 65.000 Dollar dafür. Leider waren nicht alle Kunden gleich gut in Form. Zudem traten organisatorische Probleme auf, die zu Verzögerungen führten. Dennoch: Am 9. Mai 1996 um 22 Uhr hatte der Sturm aufgehört und der Himmel war lackschwarz und mit Sternen übersät. Gute Vorzeichen. Oder nicht? Bukrejew erinnerte sich:

Ich wusste, dass der Gipfelsturm bevorstand, und mir war gar nicht danach zumute. As irgendeinem Grund war meine innere Stimme verstummt, und ich erlebte auch nicht das übliche Hoch vor dem Aufstieg, wenn jeder Muskel angespannt auf den Einsatz wartet.

2020-12-02-0003Das Hochsteigen geht gut — bis auf das Erschwernis, dass die Mitglieder der einen Gruppe (der von Rob Hall) langsam waren. Es gab einen Stau, und bessere Kletterer mussten mühsam überholen. Um 14 Uhr waren immer noch Bergsteiger unterwegs zum Gipfel; dabei galt 14 Uhr als strikte Umkehrzeit. Und um 14 Uhr beobachteten Sherpas im Lager unterhalb einen Stern mitten am Himmel, über dem Südgipfel, und sie riefen: »Das ist nicht gut, das ist nicht gut!« Die Letzten kamen um 15 Uhr zum Gipfel hoch und feierten dort 40 Minuten lang. Diese zwei Stunden fehlten ihnen dann beim Abstieg, denn das Wetter verschlechterte sich dramatisch. (Bild: Eines der vier Lager der Gipfelstürmer)

Dann wurde es fürchterlich, weil den Everest-Bezwingern Sauerstoff fehlte und sie ohnehin ausgepumpt waren. Bukrejew, der als Profi ohne Sauerstoff war, stieg nach Absprache mit seinem Chef zum nächsten Lager ab, um Sauerstoff zu holen. Niemand konnte ihm helfen, so kämpfte er sich hoch und rettete in einer Glanztat erst Sandy Hill Pittman und danach Charlotte Fox, die er hinunter begleitete. An jenem Tag starben acht Menschen am Everest, unter ihnen die Japanerin Jasuko Namba und die Chefs der beiden Firmen, Rob Hall und Scott Fisher. Bukrejew wurde für seine Lebensrettung geehrt (kurz vor seinem Tod), doch Autor Jon Krakauer, Zeuge der Besteigung, stellte den kasachischen Bergsteiger in seinem millionefach verkauften Buch In eisigen Höhen als bösen Buben dar.

Bukrejew sei ohne Sauerstoff aufgestiegen, was viel Kraft koste, so dass er seinen Kunden nicht besser helfen hätte können; außerdem habe er sie verlassen, sei abgestiegen. In Der Gipfel schreibt Bukrejew, der Abstieg sei mit seinem Chef so vereinbart worden, um mehr Sauerstoff zu holen, der äußerst knapp gewesen sei. Das teilte er Krakauer auch mit, der die Information in seinem Buch jedoch nicht verwendete. So war der russische Bergsteiger als unfähiger Egoist abgestempelt, und seine Rettungstaten wurden dadurch überschattet.

Kurz vor Bukrejews Tod sollen sich die beiden getroffen und die Meinungsverschiedenheiten ausgeräumt haben; doch was half das, da das Buch veröffentlicht war? Rätselhaft für mich ist nur, dass Anatoli Bukrejew eine Woche nach den schrecklichen Ereignissen allein den Lhotse (8516 Meter) bestieg, als sei nichts geschehen. Vielleicht wollte er sich’s nur beweisen, vielleicht brauchte er Abstand.

Illustrationen aus dem Buch im Heyne-Verlag München, 9. Auflage 1998.

 

 

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.