Wohn-Fetischismus

Jeder wohnt. Jeder hat seinen Stil. Wieviele Wohnungen hat man besucht! Spontan fällt mir eine bei Freiburg ein, in der alles auf dem Boden lag, wenngleich gestapelt und in gewisser Ordnung; die habe ich nie vergessen. Auch nicht die anderen Wohnungen, deren Perfektion einen staunen und zur gleichen Zeit erstarren lässt: Denn man könnte ja was kaputtmachen. Minenfeld! Alexander Mitscherlich hat den Wohn-Fetischismus erläutert.

Das ist aus Die Unwirtlichkeit unserer Städte. Der Psychotherapeut fragt sich, was die Wohnung zur Heimat macht und erörtert, worum es uns geht:

DSCN3689Ich muss dazu nur auf eine, wie mir scheint, unendlich häufige pathologische Form des Wohnens hinweisen. Sie ist spezifisch zentraleuropäisch , national-pathologisch, dort aber so verbreitet, dass jedermann weiß, worum es sich handelt, wenn ich sie »Wohn-Fetischismus« nenne. Es sind all die Fälle, in denen anstelle geglückter Beziehungen von Person zu Person in der Familiengemeinschaft Dinge getreten sind; alle die leblos geputzten Zimmer mit den aufgereihten Kissen auf der Sitzbank … Hier findet das große Geschrei statt, wenn ein Kratzer entdeckt wird und eine Dutzendvase einen Sprung aufweist. … Perversionen von der Art des Fetischismus treten überall dort auf, wo die Affektbeziehungen zwischen Menschen sehr früh und tief gestört wurden …

An die Stelle des geliebten Menschen tritt ein Fetisch. Und die blitzende Sauberkeit schlage bei uns oft genug in Tyrannei um, schreibt der Autor. Wenn der Ordnungszwang auf das kindliche Autonomiestreben stößt, unterliegt das Kind — und wird später vielleicht ebenso zwanghaft ordentlich. Die unverrückbare Ordnung der Dinge wird dann zu einem Abbild der inneren Wohnung, der Psyche. Für andere mag das befremdend wirken. Gemütlichkeit und Lässigkeit stellen sich schwerlich ein.

Was macht eine Wohnung zur Heimat? fragt der Analytiker.

Zur Heimat wird ein allmählich dem Unheimlichen abgerungenes Stück Welt. … Heimat hat aber noch einen anderen Aspekt in sich: das Heimliche. Manch einem fallen dabei die Stimmungen von Glück und Verzweiflung ein, die er in seinem ersten eigenen Zimmer in der heimatlichen Wohnung durchmachte und die ihn zum ersten Male fühlen ließen, wie sehr er Individuum, Einzelner und auch in manchem Einsamer bei allem Kontakt mit den anderen war.

Mitscherlich hat ja auch (mit seiner Frau Margarete) Die Unfähigkeit zu trauern geschrieben — über die Weigerung der Deutschen, ihre Vergangenheit unter den Nazis zur Kenntnis zu nehmen. Da hätte man noch etwas anfügen können über Sauberkeit als Ideologie, Blut und Boden und die Heimat: Wie diese Begriffe, absolut genommen und damit grausam pervertiert, im Verein mit der Rassenideologie und dem heuchlerischen Ruf nach mehr Lebensraum (»Volk ohne Raum«) für Millionen zum Alibi wurde, Millionen andere zu unterjochen und zu töten. 1965 war diese Geschichte ja noch sehr präsent.

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