Die glückbringende Glocke

Das Bodenseebuch 1943 ist für manipogo magisch. Ich fand eine Geschichte, die ich anlas und die ein (weibliches) Morgenland-Element enthielt und so auf wundersame Weise zu einem Thema überleitet, das sich mir anbot, denn manches Ding drängt sich auf, taucht in vielen Varianten auf und appelliert: Schreib mich! Dann folge ich nur zu gern. Folgt also mir, hoffentlich auch gern.

Gottlieb Heinrich Heer (1903-1967) aus Rüschlikon hatte im Bodenseebuch die lange Erzählung Der schwarze Garten, eine »Zürcher Legende«. Ich will sie gerafft nacherzählen. Der blonde Felix lebt allein in der Zürcher Altstadt und ist Glockengießer. Er ist in seine Arbeit vertieft und kümmert sich nicht um die Außenwelt. Frauen interessieren ihn nicht. Als er eine neue, große Glocke anschlägt, verzaubert ihn ein schwingender heller Beiklang, und Felix wacht auf. Er legt seine Rüstung an und schließt sich einem Kreuzzug an, vielleicht war es der sechste, der 1248 begann.

Nach harten Kämpfen erreicht er die geweihten Stätten und tritt dann den Rückweg an. Dabei stößt er auf eine zerstörte Ansiedlung und erlebt eine Begegnung.

An einem Mauerstück saß, den Kopf auf einen der nackten Arme gestützt, ein junges, morgenländisches Mädchen. Schwarzes, leicht welliges Haar umkräuselte in kummervoller Aufgelöstheit die Wangen und Schultern; die Fahlheit der Verzweiflung lag um die vollen Lippen, und über das dunkelhäutige, aber spiegelklare Antlitz zuckten die Schatten des Schmerzes.

Das verlassene Mädchen heißt Sulamith, und Felix nimmt sie mit nach Zürich, und auf dem Weg lässt sie sich als Christin taufen. Die Zürcher sind verblüfft und verärgert. Sulamith waltet in Haus und im schwarzen Garten zum Wohle des Mannes und war es zufrieden, »der gemeinsamen Liebe zu leben«. Die Stadtbewohner nannten die Araberin nur »die Schwarze«. Zu jener Zeit, wohl um das Jahr 1250, wurde das Fraumünster neu gebaut,  und die Äbtissin erwarb die majestätische Glocke, an der Felix so lange gearbeitet hatte. Kaum war die Einweihungsfeier vorüber, brach ein junges Mädchen zusammen und starb, und ein Schrei verbreitete sich: »Die Pest! Die schwarze Pest!« (Zürich wurde 1347 und dann wieder 1519 von der Pest betroffen und dezimiert, der Autor verlegte das Geschehen vor: Es ist ja eine Legende.)

Als unaufhaltsam schleichendes Verhängnis, das unverfolgbare Wege erspürte, umfingerte das Gespenst der Pest Haus um Haus, drang es von Stcokwerk zu Stockwerk, von einer Kammer zur andern, wo die Bewohner versteckt in ihrer hilflosen Bangigkeit selbst Hunger und Liebe vergaßen und kaum mehr etwas anderes unternahmen, als unablässig aus vor Angst tränenlosen Augen ihre Glieder mit heißen Blicken zu umspähn, ob die Haut fleckig sich verdunkle, oder ob ihnen, da die Seelen sich des Gebets und des Flehens um Gnade entsannen, die Prüfung erspart bleibe. 

Die Hälfte der Einwohner starb. Nun kam die Frage nach Schuld und Verursachung auf, und man bemerkte, dass des Glockners Haus von der Pest verschont geblieben war, und bald entstanden Gerüchte, die in der Überzeugung mündeten, die »Schwarze« sei schuld an der Pest, und der Glockner habe seine Glocke verhext. Der Küster berichtete, sie habe nicht mehr schlagen wollen, nur noch geröchelt. Die Volkswut brach sich Bahn; Horden rotteten sich vor dem Haus des Glockners zusammen und warfen Steine, und endlich wurden Felix und Sulamith mit einer formellen Anklage vcor den Reichsvogt geschleppt.

Die Verhandlung fand unter freiem Himmel statt und zog sich hin. Die Angeklagten gestanden nicht, Felix beteuerte immerzu ihre Unschuld und rief endlich aus: »So rufe ich Gott selbst zum Zeugen auf, dass mein Weib und ich unschuldig sind!« Die Richter berieten sich und beschlossen: Gottesurteil! Man würde beiden Hände und Füße locker binden und sie in den Fluss werfen; kämen sie an die Oberfläche, seien sie schuldig, sänken sie in die reine Tiefe des Wassers, wäre ihre Unschuld bewiesen, und kämen sie danach noch hoch, wären sie frei. Alle beteten ein Vaterunser.

In diesem Augenblick trug auch der Wind ein leises Singen und Summen über die Dächer, ein ferner Chor himmlicher Heerscharen schien verhalten ein Danklied anzustimmen … Im Gebälk des Kirchturms hatte die Glocke langsam zu schwingen begonnen, als versetzten ihr unfassbare Hände erst leichte, dann immer kräftigere Stöße, und sie ertönte von selber und läutete dann rasch, dass es wie eine unaufhaltsam eindringlicher werdende Mahnung zu allerhöchstem Gewicht auf den Platz und in alle Gassen schallte. … Aller Blicke starrten fassungslos empor zum Turm. Als sei ihren Zungen das Wort und den Kehlen die Stimme geraubt, staunten sie auf das Schwingen der Glocke und in das machtvolle Läuten, das sich nicht beruhigen wollte.

Dann wirft sich der Küster zu Füßen des Reichsvogts: Seine Magd sei das erste Opfer gewesen, sie habe Umgang mit einem reisenden Gesellen gehabt … Und es nähern sich die Äbtissin mit ihren Schwestern, und sie hebt das goldene Kreuz und ruft: »Die Unschuld wandle frei! Ein Wunder! … Ein Wunder!« Felix darf Sulamith heimwärts tragen, sie sind frei.

Von Stunde an verlief das Leben der beiden Gatten in ungetrübtem Segen. Die Nachbarn und das Volk der Stadt betrachteten ihr stilles Dasein jetzt mit einer ehrfürchtigen Scheu; die ehmals Geschmähten genossen als vom Wunder Erhöhte eine besondere Achtung und Verehrung, die auch darin ihren Ausdruck fand, dass jene, die früher an böse Mächte glaubten, später von ausgesprochen guten Kräften der Fremden Vielerlei zu berichten wussten und in mancher Anfechtung und Bedrängnis bei ihr Rat und Hilfe suchten.

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Gottlieb Heinrich Heer blickt weiter. »Die Jahrhunderte entsanken, und die Geschlechter starben dahin.« Eine heilkundige Gesellschaft quartierte sich im alten Haus von Felix und Sulamith ein. Doch der Geist war verschwunden:

Aber es war schon zu viel des nüchternen Marktens und des gelehrten Geredes in der Welt geschehen, als dass die Heiligen sich sich zeigen und vernehmen lassen mochten, und im lieblichen Geläute der Becher hörten die Zechenden höchstens die Mahnung des Lebens, der Zeit das Ihre zu geben und das Irdische wie das Ewige als ein Geschenk des göttlichen Schicksals aufrecht und demütig zugleich zu empfangen.

So ist das. Aus unserer Welt sind das Rätsel, das Wunder und die Überraschung verschwunden. Fernsehen bietet uns als dünnen Ersatz Krimis und Fußballspiele, die eine Auflösung bieten. Ansonsten wird geschachert oder gekocht. Unsere Welt ist geheimnislos geworden, wir wissen scheinbar alles, aber halten Wunder und Gottes Werke nicht mehr für möglich, und also geschehen sie nicht.

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