Eichs Träume
Am 19. April 1951 wurden im Norddeutschen Rundfunk die Träume von Günter Eich ausgestrahlt. Fünf Träume waren es, verstörende und nihilistische Träume, und viele Hörer riefen an und protestierten: »Kann man den Mann nicht einsperren?« (Vielleicht wünschte man ihm auch Schlimmeres.) Das Hörspiel war jedenfalls ein Erfolg. Der erste Traum ist eine Übertragung von Platons Höhlengleichnis in die Nachkriegszeit. Das Leben als Traum. Gibt es eine Außenwelt?
Statt mich selber damit abzumühen, gebe ich einfach eine Zusammenfassung des Traums aus dem Lexikon Traumkultur der Universität Saarbrücken wieder.
Der erste Traum handelt von Familienangehörigen mehrerer Generationen (Uralter, Uralte, Enkel, Frau und Kind), die sich allesamt eingesperrt in einem dunklen, fahrenden Güterwaggon wiederfinden und dort von schimmeligem Brot ernährt werden. Nur die beiden ältesten Insassen können sich zu Beginn des Dialogs noch erinnern, dass einmal ein Leben außerhalb des Waggons existiert hat: »Es gab etwas, was wir Himmel nannten und Bäume.«
Die Eingeschlossenen reden über den Anlass des Transports, der im unmittelbaren Nachkriegskontext als Deportation verstanden werden muss: »Es war vier Uhr nachts, als sie uns aus den Betten holten«. Kind und Enkel fühlen sich durch die Geschichten der Uralten verunsichert, gelangweilt oder provoziert. Daher stellen sie die Existenz einer Welt außerhalb des Waggons in Frage. Bald zweifeln die beiden Uralten selbst, und genährt wird dieser Zweifel durch den Verdacht, die »Welt da draußen« nur geträumt zu haben. Die schließlich auch für die Alten plausible Vorstellung von einem Traum (also ein Traum innerhalb eines anderen Traums) führt zu einer Ent-Wirklichung der Außenwelt.
Dann fällt durch einen Spalt im Holz ein Lichtstrahl ins Innere. Trotz ihrer Angst, nach draußen zu blicken, erspähen Enkel und Uralter ein Stück der äußeren Welt. Während der Enkel das Erblickte nicht versteht, weil ihm die Wörter zur Benennung fehlen, und er daher vor Angst seinen Blick abwenden muss, scheint der Uralte die frühere Umgebung zunächst durchaus zu erkennen: »Ich sehe den Löwenzahn, die Wiesen sind gelb davon. Da sind Berge und Wälder – mein Gott!« Doch was sich auf groteske Weise verändert hat, sind die diese Welt behausenden Menschen: »Es sind keine Menschen mehr, wie wir sie kannten«. Die menschlichen Gestalten sind zu furchteinflößenden Riesen geworden; die gesamte Wahrnehmung erscheint verzerrt.
Die Furcht vor der Wahrheit ist so groß, dass das Loch mit vereinten Kräften verschlossen wird. Sämtliche Insassen ziehen die Gefangenschaft in der Dunkelheit der äußeren Wirklichkeit vor, deren grelles Licht schmerzt. Während Kind und Enkel beruhigt darüber sind, »daß es wieder ist wie vorher«, stellen Uralter und Uralte fest, dass keine Rückkehr in den vorherigen Zustand mehr möglich ist. Der Traumdialog endet damit, dass die Fahrtgeräusche immer lauter werden und sich die Geschwindigkeit des Zuges ins Unermessliche steigert. Der Ausruf des Uralten »Ich glaube, es geschieht ein Unglück. Hilft uns denn niemand?« wird von dem Enkel mit einem hilflosen »Wer?« beantwortet.
Die Schlusspassage erinnert an Dürrenmatts Zug-Erlebnis zwischen Basel und Zürich, an die Geschichte Der Tunnel. Eine Katastrophe deutet sich an. Wenn es klaustrophobisch wird, zweifelt man daran, dass es draußen noch etwas gibt. Aber brauchen wir die Außenwelt? ›Er schaut aus dem Fenster und sieht die ganze Welt‹, heißt es bei Lao-tse. Auch im Lockdown sind wir bei uns. Der Buddhist wird zu dem, was er betrachtet und betrachtet sich demnach selbst, wohin er auch schaut. Und in den Träumen gehen wir eine Etage tiefer und tun uns in unserem Inneren um, das reichhaltig genug ist.