Menasehs Traum
So viele Träume! Menasehs Traum ist ein Märchen von Isaac Bashevis Singer, 1968 veröffentlicht. Es ist eine Jenseitsreise, die uns als Traum dargestellt wird und auch alle Elemente einer Nahtod-Erfahrung enthält. Und es ist auch eine herzerwärmende Geschichte. Der kleine Menaseh ist zwölf Jahre alt und Waise.
Menaseh lebt bei seinem Onkel Mendel, dem Glaser, und seiner Tante Dwoscha. Mitten in einem heißen Sommertag streitet der Junge mit seiner Tante und geht ohne Mittagessen fort, in den Wald. Da war es kühler.
Er fühlte sich einsam, der Kopf tat ihm weh, und die Knie wurden ihm weich. Werde ich krank? dachte er. Dann bin ich bald bei Vater und Mutter. … Ohne dass er es merkte, streckte sich Menaseh auf dem Waldboden aus und schlief ein. Aber im Traum wanderte er weiter. … Bald wurde der Wald lichter, und er kam auf eine Ebene mit weitem Blick auf den Abendhimmel. Plötzlich tauchte im Zwielicht ein Schloss auf. Menaseh hatte noch nie ein so wunderschönes Bauwerk gesehen.
Das Dach war aus Silber, und die Fenster waren hoch, und drinnen, in einem riesigen leeren Raum, sieht er sein Bild an einer Wand hängen. Dann öffnen sich Türen, und schön gekleidete Frauen und Männer betraten den Saal.
Er erkannte Vater und Mutter, Großvater und Großmutter und andere Verwandte. Er wollte zu ihnen, sie umarmen und küssen, aber das Fenster war im Weg. Menaseh weinte bitterlich.
Tobias der Schreiber, sein Großvater, erklärt ihm, dass sie alle ihn lieben und auf den Tag warten, da sie mit ihm zusammensein werden, dass er, Menaseh, jedoch noch eine lange Reise vor sich habe. — »Bitte, lass mich nur ein paar Minuten hinein«, fleht Menaseh, und Tobias lässt sich erweichen. Menaseh umarmt und küsst seine Eltern, und wie sie schwebt er eher, als dass er geht. Der Großvater zeigt ihm sieben Zimmer: im ersten Menasehs Kinderkleider, alle seines bisherigen Lebens; im zweiten alles Spielzeug; im dritten: alle Seifenblasen, die er je produziert hat; im vierten nur Stimmen, Geplauder, Gelächter aus früheren Zeiten; im fünften alle Figuren der Gutenachtgeschichten, die er gehört hatte. Im sechsten Zimmer dreht sich alles wie im Taumel, und König Salomo ist da, das zeigt Menaseh seine eigenen Träume.
Im siebten Zimmer herrscht Nebel, und auf der Türschwelle steht ein gleichaltriges Mädchen mit blonden Zöpfen. Der Großvater sagt, das seien Menschen und Ereignisse seiner Zukunft. Das Schloss nennen sie »den Ort, wo nichts verloren ist«. Nun musste er gehen, er war in Gefahr. Abschied von den Eltern, und schon ist das Schloss verschwunden. Menaseh wacht auf, es ist Nacht. Ein Mädchen mit blonden Zöpfen beugt sich über ihn. Es ist Channeleh, die erst kurz im Ort lebt. Sie verabreden sich für den nächsten Tag.
ϖ ψ ω
»Aber im Traum wanderte er weiter« … und vielleicht löste sich sein Bewusstsein vom Körper und begab sich mit seiner astralen Hülle an den Ort, der alles aufbewahrt. Das Schloss ist gewissermaßen sein Leben. Alles, was er getan und erlebt hat, ist darin aufbewahrt, alle seine geliebten Menschen sind da, und er bekommt sogar einen Blick in seine mögliche Zukunft. Der Blick in die sechs Zimmer wirkt wie der Lebensrückblick, der diejenigen zuteil wird, die ihren Körper zurücklassen, und der kurze Aufenthalt mit der Mahnung, man müsse nun zurück, ist uns ebenfalls vertraut. Wenn man dann in seinen Körper zurückgerutscht ist, hat man jene Dimension verlassen; das Schloss ist fort. Menaseh wird es nach dem Ende seiner Existenz wieder aufsuchen, und es wird noch genauso stattlich und schön sein, wenn er ordentlich gelebt hat.
Illustration: Scone Palace in Perth (Zentralschottland), aufgenommen zwischen 1890 und 1906. Dank an Library of Congress, Washington D. C.
Anderes zu Isaac B. Singer, der 1978 den Literatur-Nobelpreis erhielt:
Der Onkel aus Amerika
Staub