Lindau

Heute wäre der Geburtstag meines Vaters, der 86. Er ist relativ früh gestorben, Ende 1985 mit 58 Jahren, aber das bedeutet nichts. Erst vor wenigen Tagen lag ich am frühen Abend auf dem Sofa, schlief halb ein, und plötzlich spürte ich ihn, wachte auf und hatte den Gedanken: Kann nicht sein. Er ist ja nicht mehr da. Aber den Tod gibt es nicht. Er, mein Vater, ist bloß  woanders. Und ganz selten macht er sich bemerkbar.

Geboren wurde er 1927 in Lindau. Darum mag ich die Stadt, diese bayerische Exklave in Baden-Württemberg (oder sagt man Enklave?). Sie war vor über 200 Jahren mal österreichisch, aber es ist eine besondere Stadt mit ihrer Insel. Lindau-Insel. Da gibt es den Leuchtturm und, ihm an der Hafeneinfahrt gegenüber, den bayerischen Löwen. Einmal, vor zehn Jahren, haben Giovanna und ich dort eine Nacht in einem Hotel am Hafen verbracht, romantisch, und um zehn Uhr erloschen alle Lichter.    

 

Eugenio Montale (1896-1981), der italienische Nobelpreisträger, hat über Lindau ein Gedicht geschrieben, acht Zeilen lang, mit Reim. Ich habe es übersetzt, kongenial, wie ich finde, und hier ist es:  

Lindau 

Die Schwalbe trägt euch Gräser her,
sie will nicht, dass das Leben ihr entschweift.
Doch nachts zwischen den Mauern totes Wasser wie aus Teer
die Steine schleift.

Unter dem Fackelrauchen fallen
Schatten auf die leeren Uferflächen.
Im Rund des Platzes hört man eine Sarabande erschallen
und im Gestöhn der Raddampfer sich brechen.

Einmal (1991) habe ich einen Roman geschrieben, einen ziemlich schlechten, bei dem der Held Pauli hieß und sich einen Raum für Waren an der Ladestraße, an der mein Vater aufwuchs, zu einer schönen Wohnung ausbaut. Ich weiß nicht, was in der Geschichte dann noch passiert ist; was wusste ich vom Leben? Man muss einfach mehr gelebt haben, bis man einen guten Roman schreiben kann. Hemingway sagte aber, dass jeder gute Autor einen guten Roman hinkriegen muss.

 

Mein Vater war anders als ich. Er hatte viele Freundinnen vor seiner Ehe und war ein »Hallodri«, wie er selber zugab. Er ist dann Buchhalter gewesen bei einem großen Finanzier, und in Abendkursen qualifizierte er sich zum Steuerbevollmächtigten. Das machte er gut, die Kunden mochten ihn, und er malte schöne Bilanzen. Später wuchs ihm das Formelwerk über den Kopf, die Steuergesetzgebung war zu kompliziert geworden. 

Ich bin anders. Er war auch Steinbock, ich bin Wassermann, ein typischer: Popmusik, dann Parapsychologie, Spiritualismus. Aber wie heißt es im Orient: »Der Sohn ist das Geheimnis des Vaters.« Wenn ich nicht irre, steht das sogar in der Kaa’ba in Mekka geschrieben. Das gefällt mir. Sirr heißt auf Arabisch das Geheimnis, ibn ist der Sohn, abd der Vater. Der Sohn verwirklicht das, was sein Vater nicht schaffte, was in diesem jedoch vielleicht angelegt war. Zusammen wären wir ein tolles Team.

Ein Kommentar zu “Lindau”

  1. Rolf Hannes

    Lieber Manfred, wenn Du in Deine Texte kleine Fehlerchen reinflickst, sag ich ja nichts (mehr). Aber diesmal muß ich Dich auf etwas aufmerksam machen. Du hast Dich außen vor gelassen in der romantischen Nacht in Lindau. Kann nicht schwer sein, Dich da reinzusetzen. Wo Du hingehörst, der Grammatik und Romantik zuliebe.

    Ciao und servus
    Rolf