Jenseits der Vorstellung
Ich habe die leise Hoffnung, einmal arabische Schriftzeichen entziffern zu können. Vor längerem hatte ich einmal für 2 Euro einen Langenscheidt Mini-Sprachführer Ägyptisch/Arabisch von 1958 erworben, und in dem lese ich herum, schreibe die Zeichen ab und präge mir die Verben ein. Wir haben ja Zeit. Und dann las ich einen höchst interessanten Satz.
Der Satz hieß: »Im Arabischen gibt es keinen Konjunktiv. Es ist daher der Unterschied zwischen realem und irrealem Konditionalsatz (Bedingungssatz der Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit) oft nur aus dem Zusammenhang zu entnehmen.« Man setzt das Zeichen lau vor das Perfekt, schreibt also nicht »falls ich Zeit hätte«, sondern »falls ich Zeit habe« und nicht »falls ich Zeit gehabt hätte«, sondern »falls ich Zeit hatte«.
Dann las ich ein anderes Buch, zufälligerweise auch aus jener Zeit, 1959, von dem amerikanischen Anthropologen Edward T. Hall: The Silent Language. Da berichtet er von einem Agrarexperten seines Landes, der ins ländliche Ägypten kam und mittels eines Übersetzers einen Bauern fragte, was er sich bis Ende des Jahres wohl an Ernte erwarte. Der Mann hörte sich die Übersetzung an und antwortete, aber er schien ziemlich wütend. »Er weiß es nicht«, gab der Übersetzer wieder. Später erfuhr der US-Agrarmann, dass jemand, der von der ferneren Zukunft sprach, für verrückt gehalten wurde; er hatte den Bauern also als Verrückten gebrandmarkt, indem er ihm eine Voraussage abverlangte. Das passt ja gut zu der Aussage über den fehlenden Konjunktiv im Arabischen. (Unser Bild: Kutschfahrt durch ein ägyptisches Dorf, Januar 1993)
In vielen traditionellen Gesellschaften mag das so gewesen sein. Es ist ganz natürlich. Ich lebe hier und jetzt. Was sein könnte oder was sein wird, ist Nichtwirklichkeit. Ich könnte es mir vorstellen, aber welchen Sinn sollte das haben? Es wirft einen nur aus der Bahn. Ich erinnere mich an ein Buch über die Strategien von Autoverkäufern in den USA, und da hieß es, manchmal sagten sie dem potenziellen Käufer auf der Probefahrt: »Stellen Sie sich doch mal vor, das wäre Ihr Wagen!« Die Reaktion darauf war meist eine Art »Blackout«, und nicht selten kam es dann zu einem Unfall.
Sich von einer Zukunft leiten zu lassen, Pläne zu schmieden oder von einem besseren Leben zu träumen, ist wohl erst spät in den menschlichen Horizont eingetreten. Es hat dann die Sprache geformt, und sie wiederum wirkte aufs Denken zurück.
Jesus Christus sagte noch: »Jede Tag genügt seine Plage.« Und Horaz, der kurz vor ihm lebte und vorgestern auf manipogo den Schnee auf dem Soratte beschrieb, mahnte uns: Nütze den Tag; du weißt nicht, was morgen kommt, drum kümmere dich ums Heute. Und schon lange erinnern »Weisheitslehrer« daran und mahnen: Lebe im Jetzt! Achtsamkeit! Aber es ist schwer, dem Menschen das, was ihm eingetrichtert wurde, auszureden.