Unna

Bleiben wir dran am Alkohol. Ein Buch, das mich bewegte, kam ohne ihn nicht aus, und zum gestrigen Beitrag passt es noch dazu. Das wie so oft  zufällig entdeckte Buch heißt Unna und wurde 1992 von Juri Rytchëu (1930-2008) geschrieben. Unna Owtowna Owto spielt die Hauptrolle. Warum musste der Autor sie sterben lassen? Darüber bin ich noch nicht hinweg. Unna fehlt mir.

Da wird viel gesoffen, und das scheint in den nördlichsten Gegenden unserer Erde normal zu sein. Iwan Petrowitsch sagt Unna, im Kampf gegen den Alkoholismus wolle man im Nationalen Bezirk Tschukotka Bierhallen erbauen, um

»die Bevölkerung nach und nach von hochprozentigen Getränken abzubringen, an die sie amerikanische Händler und zaristische Kaufleute gewöhnt haben. … Spezialisten behaupten übrigens, Bier enthalte eine große Menge wertvoller Nährstoffe und Vitamine, die ein Mensch braucht, wenn er unter schwierigen Naturbedingungen arbeitet. Nicht ohne Grund nennt man dieses Getränk flüssiges Brot.«

auto2Solch ein Satz geht dem Münchner runter wie Öl! Das nennt man den Teufel mit dem Beelzebub austreiben. Wir werden von Rytchëu ins Land der Tschuktschen entführt, das im äußersten Nordosten Asiens liegt: der letzte Vorposten der einstigen Sowjetunion. Überquert man in östlicher Richtung die 85 Kilometer der Beringstraße, so landet man an der Küste Alaskas. Unna ist Tschuktschin. Ihr Vater arbeitet als Rentierzüchter, andere sind Fischer. Der Hauptort heißt Anadyr, hat 13.000 Einwohner und heißt auf Tschuktschisch Whän. Alles dreht sich um den Fisch, das Ren und Hochprozentiges.

Unna Owto ist eine begabte Schülerin und schlau noch dazu. Sie sagt das Richtige. Bald fällt sie der Partei auf, und da man die Einheimischen fördern will, ernennt man sie zu einer Bezirkssekretärin. In Whän liegt ihr Büro, und bald fliegt sie durch die Gegend, wird von allen hofiert, von schwarzen Limousinen abgeholt und mit westlichen Konsumgütern versorgt. Alles prima. Wenn man nicht so genau hinschaut.

DSCN3994Rytchëu war der erste bedeutende Schriftsteller seiner vielleicht 20.000 Landsleute. Zunächst schrieb er, was dem Regime gefiel, später wurde er immer kritischer. Das Buch Unna erschien nach dem Zerfall der Sowjetunion und ist ein bitterer Rückblick auf das 20. Jahrhundert, das man das Jahrhundert der Ideologie nennen könnte, da es durch den Faschismus, den Nationalsozialismus und durch den Kommunismus (und den Anti-Kommunismus) geprägt war, und Religion ist ja auch oft Ideologie. Sie, die Ideologie, malt sich die Welt schön und blendet aus (oder merzt aus), was (zu) ihr nicht passt. Die Anpasser machen Karriere, doch dich anpassen macht dich kaputt.

Unna macht ihren Job und ist effizient. Doch dann läuft ihr ein Musiklehrer über den Weg, und sie verliebt sich in diesen Jakow Lasarewitsch. Will ihn heiraten und wird schwanger von ihm. Jakow ist jedoch Jude, das mag man in höheren Kreisen nicht. Unna hat gute Aussichten, in den Obersten Sowjet gewählt zu werden: hoch zu den Sternen! Also lässt sie sich überreden, das Kind abzutreiben, und Jakow verschwindet. Für den Obersten Sowjet wird indessen eine andere Frau nominiert.

Awgust Shirindan ist ein alter Schulfreund Unnas, ein Journalist und Abweichler, der »Feindsender« hört. Er stellt die kritische Stimme dar, die Unnas Überzeugungen widerspricht. Die Kommunisten wollen die kleinen Völker unterjochen und ihnen ihre Identität nehmen, sie vereinnahmen. Das kennen wir alles aus der Geschichte: Spanische Eroberer und englische Missionare wollten die einheimischen Sprachen verbieten und starteten grausame Umerziehungsprozesse. Die Macht macht sich alles untertan und gleich. Awgust steht Unna zur Seite, als sie auf einen anderen Posten abgeschoben wird. Dann verfällt sie dem Alkohol — wie ihr Vater, den sie einsam im Altersheim sterben ließ.

IMG_9487Awgust und Unna besaufen sich ein paar Tage und Nächte lang bis zur Besinnungslosigkeit. Er will ihr etwas Wichtiges sagen, sie will nichts hören. Dann blickt sie über die Ebene wie Jahre zuvor, sieht ihr Elend und geht hinaus in die Kälte. In Whän wird es im Winter zwischen minus 15 und minus 24 Grad kalt. Sie hat die Karriere verspielt, ihr Kind getötet, den Geliebten verletzt, den Vater ignoriert, und das war’s. Doch halt! Das denke ich mir. Im Buch denkt Unna nur, dass sie hoch hinauswollte und es nicht schaffte, darin sieht sie ihre Schuld. Schade, dass ihr Awgust nicht mehr sagen konnte, dass er sie immer geliebt hatte. Er sieht sie noch einmal:

Sie lag da mit fest geschlossenen Augen, als schliefe sie, und nur an den Wimpern blitzten im Schein der schwachen elektrischen Birne einige Schneeflocken, die nicht tauten. Die Gesichtsschwellung war verschwunden, und Unna sah so schön und jung aus, dass sich in Awgust alles zusammenkrampfte.

Wenn in dieser entscheidenden Minute jemand da ist! Ein wenig Zeitgewinn, und die Welt sieht anders aus. Es gibt andere Wege. In diesem Leben sollte man wiedergutmachen; nichts ist verloren. Weggehen kann man, ein neues Leben unter anderem Namen beginnen! Geht man in die andere Welt, wird man mit seinen »Sünden« konfrontiert und wird leiden. Besser ist es, noch in diesem Leben abzurechnen. Es gibt kein Scheitern; man war da, man hat etwas probiert, und es ist nie zu spät. Schade, dass Unna wegging.

 

Ω Ω Ω

Das Zeichen oben ist das griechische Omega, der letzte Buchstabe des Alphabets. Schon seltsam, diese 3 Beiträge über den Tod. Aber Ende März, als ich sie schrieb, wusste ich nicht, dass meine Mutter am 17. April, also gestern, sterben würde. Am 16. um elf Uhr am Vormittag waren ihre Lider plötzlich auf Halbmast, sie nahm nichts mehr wahr, und dann atmete sie eifrig und ständig 28 Stunden lang. Die ganze Nacht verbrachten meine Schwester und ich bei ihr. Am Nachmittag dann, genau um drei Uhr, hörte sie auf zu atmen und wurde leichenblass. Die gute Friedl war fort, im gesegneten Alter von 91 Jahren. Ich bin sicher, sie wird eines Tages mit mir Kontakt aufnehmen. Dann gebe ich Bescheid. Ich konnte ihr jedenfalls noch eine glückliche Reise wünschen.

 

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