Flugverkehr (120): Tundrapilot
Tundrapilot wäre ein guter Titel für den Thriller The Most Dangerous Game gewesen, das im Deutschen Das gefährlichste Gegenüber aufgebrummt bekam, was wenig Sinn ergibt. Gavin Lyall (1932-2003) hat das spannende Fliegerbuch schon 1965 herausgebracht, es spielt im Kalten Krieg und im Kalten sowieso: an der finnischen Grenze zu Russland.
Es war eine Heyne-Ausgabe mit vier Thrillern, die ich schon wegwerfen wollte, dann dem Wälzer eine Chance gab. Das erste Wort der ersten Zeile des ersten Thrillers genügte, mich zu überzeugen: Rovaniemi. Das ist in Finnland und ganz weit weg (nicht so weit wie bei den Tschuktschen jedoch) und ein ungewöhnlicher Schauplatz. Nach einer Seite (es ist gut übersetzt) war ich für das Buch gewonnen und las die restlichen 250 auch noch.
Bill Cary ist Vermessungsflieger für eine Gesellschaft, mit einem Beaver-Schwimmflugzeug. Die russische Grenze ist nah, die sollte er vermeiden. Cary ist der typische Detektivheld: hartgesotten, lakonisch, professionell, hilfsbereit und auf der Seite der Guten. Er ist 40 Jahre alt und hat eine Vergangenheit im britischen Geheimdienst, den er verlassen musste (natürlich ungerechtfertigterweise). Eine Frau kommt auch vor, Alice Beekman, und sie kommen zusammen, doch am Ende trennen sie sich. Im Thriller geht der Held in der Liebe immer leer aus, den Rest kriegt er gut hin. Glück im Spiel, Pech in der Liebe.
Mir gefällt das Fliegermilieu. Lyall war bei der Air Force, er kennt sein Metier. (Getrunken wird auch eine Menge.) Zitieren wir ein paar Passagen.
Allein vermessen macht keinen Spaß. Es gibt keine automatische Kurssteuerung in der Beaver, man muss die Trimmung leicht nach unten stellen, dann die Kabine hinunterklettern, hoffend, dass das Eigengewicht die ganze Sache ins Gleichgewicht bringt. Dann braucht man bloß die Szintillometer- und Magnetometergeräte einzuschalten, die Haspel abzuwickeln, die das Magnetometer durch die Ladeluke ausfährt, so dass es genügend von den Metalleinflüssen des Flugzeugs entfernt ist, sicherzugehen, dass die Registrierungsgeräte aufgewärmt sind und richtig funktionieren, dann wieder nach vorn gehen, um die Maschine zu hindern, dass sie überzieht oder in eine Spiralkurve übergeht.
Nachtflüge sind großartig.
Es war eine stille, fast windlose Nacht mit einigen gebrochenen Wolkenschichten und einem untergehenden Mond im Westen. Über den Seen und Flussbiegungen lagen Nebelfetzen, aber noch nichts Ernsthaftes. Ich überquerte die Polarstraße südlich von Inari und flog über den Inari-See hinaus, um Höhe zu gewinnen, ohne gehört zu werden. Dann drehte ich um, schaltete den Motor ab und glitt südwärts auf die Straße nach Ivalo hinunter, dessen Lichter fünfzehn Meilen vor mir durch den Nebel blinkten. Ich suchte einen zwanzig Meter langen Wohnwagen.
Dann sagt uns Gavin Lyall noch, was es mit Nachtflügen auf sich hat. Normalerweise rechne man und versuche, die Faktoren richtig einzuschätzen und die Fakten richtig zu berechnen; dann sei man sicher. Dann: »So war es nicht.« Das ist so im Thriller: Man wird vom Autor immer wieder brutal vom Kurs abgebracht.
Ich löste keine Rechenaufgabe in einer gemütlichen Kabine. Ich eilte auf dem Fußboden des Himmels dahin, ängstlich nach allen Seiten, meist aber nach vorne blickend; hob mich über kleine Berggrate, die aus dem Dämmerlicht auf mich zuschossen, suchte nach dem fleckenlosen Stahlschimmer eines Flusses, um meine Position danach zu bestimmen. Die Kabinenbeleuchtung hatte ich ganz heruntergedreht und tat so, als versteckte ich mich ― aber ich versteckte mich in etwas, das fünf Meilen weit gehört und dessen Radarspur auf fünfzig Meilen gesehen werden konnte.