Herz der Finsternis (2)

Im April machte ich Frühjahrsputz und trennte mich auch von 100 meiner vielleicht 800 Bücher. Manchmal fällt es mir schwer, und im letzten Augenblick ziehe ich das Buch, das ich in ein Regal stellen wollte, wieder zurück und schaue hinein. Da war das ziemlich kaputte Taschenbuch Herz der Finsternis von Joseph Conrad, ein Diogenes-Band von 1977, und stehen darin nicht drei Szenen, so filmisch geschrieben, dass man sie nicht vergisst? Die muss ich einfach abschreiben.

Vorgestellt hatte ich das Buch im September 2014. Conrad war ja Pole, schrieb aber auf Englisch, nicht in seiner Muttersprache also, und wie schön er in ihr schrieb! Auch in der deutschen Übersetzung genieße ich es. Das Buch ist in mir drin, und als ich 2015 in London an der Themse war, dachte ich, dass es außerhalb der Stadt beginnt, dass dort die Segeljacht Nellie sich ausruht und der Tag sinkt, aber ich muss mich bremsen und kann nicht das ganze Buch zitieren, ihr müsst es lesen! Die erste denkwürdige Szene ist, wie Marlow zu seiner Geschichte anhebt, die das Buch werden wird.

DSCN0289Die Sonne ging unter, die Abenddämmerung brach über den Strom herein, und die Küste entlang begannen die Lichter aufzublinken. Der Leuchtturm von Chapman, der mit seinen drei Beinen im flachen Schlick stand, warf sein starkes Licht über das Wasser. Die Lampen der Schiffe bewegten sich im Fahrwasser — ein Gewimmel stromaufwärts und -abwärts wandernder Lichter. Und weiter im Westen, stromaufwärts, zeichnete sich der Ort der Riesenstadt noch immer dräuend gegen den Himmel ab, eine brütende Düsternis im Sonnenschein, ein gespenstischer Glanz unter den Sternen.
»Und auch dies«, sagte Marlow unvermittelt, »ist einer der dunklen Plätze der Erde gewesen.«
Er war der einzige unter uns, der noch immer zur See fuhr. Das Schlimmste, das sich von ihm sagen ließ, war, dass er nicht seinen Stand repräsentierte. Er war ein Seemann, doch er war auch ein Wanderer, während die meisten Seeleute, wenn man so sagen darf, ein seßhaftes Leben führen.

Marlow sitzt also an den Mast gelehnt mit gekreuzten Beinen wie ein Buddha und erzählt in der Dunkelheit, und der Erzähler, der Marlow erlebt und ihn als Erzähler einführt, meint, dass es ihm und seinen Freunden »beschieden sein würde, bis die Ebbe einsetzte, einen von Marlows unwahrscheinlichen Erlebnisberichten zuzuhören«. Irgendwann ist er mit seinem Schiff erzählend im Innern des Kongo angelangt, mit Pilgern, die er auf seinem Schiff zur Station von Kurtz bringen soll. Nun die zweite erinnerungswürdige Szene, die ich nie vergessen habe, als hätte ich einen Film gesehen. Die Abenddämmerung fällt über den Fluß herein.

dasweissenichtsNicht das leiseste Geräusch war zu hören. Man blickte sich staunend um und begann den Verdacht zu hegen, taub zu sein — dann brach unvermittelt die Nacht herein und machte einen obendrein noch blind. Gegen drei Uhr morgens sprang ein großer Fisch aus dem Wasser, und das laute Klatschen ließ mich auffahren, als wäre ein Kanonenschuss abgefeuert worden. Als die Sonne aufging, lag ein weißer Nebel über dem Wasser, sehr warm und klamm, und noch undurchdringlicher als die Nacht. Er verschob oder verzog sich nicht; er war einfach da, umgab einen von allen Seiten wie etwas Festes. Gegen acht oder neun Uhr hob er sich, wie sich ein Rollladen hebt. Wir taten einen flüchtigen Blick auf die himmelragenden Baummassen, auf den riesigen, verfilzten Dschungel und den glühenden kleinen Sonnenball darüber — alles vollkommen still  —, und dann senkte sich der weiße Rollladen wieder, sanft, als gleite er gefettete Kehlen hinab. Ich ordnete an, dass die Kette, die wir gerade einhievten, wieder weggefiert werde. Ehe noch die Kette mit dumpfem Rasseln ausgelaufen war, stieg ein Schrei, ein sehr lauter Schrei, wie unendlicher Trostlosigkeit sich entringend, langsam in die undurchdringliche Luft. Er verhallte.

Dieser Nebel, der wie ein Rollladen sich senkt oder hebt; und dann der Schrei: Das ist großartig. Nun noch Szene drei. Ein Auftritt am Kongo, der einem den Atem stocken lässt.

2021-05-04-0001Und das beleuchtete Ufer entlang bewegte sich von rechts nach links ein wilde und prächtige Frauensperson.
Sie kam gemessenen Schrittes daher. Angetan mit gestreiften und fransenbesetzten Tüchern, stampfte sie unter dem Geglitzer und leisen Geklingel barbarischen Schmuckes stolz über den Boden. Sie hielt ihren Kopf hoch erhoben; ihr Haar war in der Form eines Helms frisiert; sie trug bis zu den Knien reichende Messing-Gamaschen; Messing-Armreife bis zu den Ellenbogen, einen roten Fleck auf ihrer lohfarbenen Wange, unzählige Halsbänder aus Glasperlen:; bizarre Dinge, Amulette, Geschenke von Medizinmännern, die an ihr herumbaumelten, glitzerten und bei jedem Schritt erzitterten. Sie muss den Wert mehrerer Elefantenstoßzähne an sich getragen haben. Sie war primitiv und herrlich, funkeläugig und grandios; etwas Unheilverkündendes und Hoheitsvolles lag in ihrem bedächtigen Näherkommen.(…)

2021-05-04-0002Sie kam dicht an den Dampfer heran, blieb stehen und wandte uns ihr Gesicht zu. Ihr langer Schatten fiel bis zu dem Rand des Wassers. Ihr Gesicht hatte den tragischen und ungestümen Ausdruck wilden Schmerzes und stummer Pein … Sie sah uns alle an, als hinge ihr Leben von der unerschütterlichen Standhaftigkeit ihres Blickes ab. Plötzlich breitete sie ihre nackten Arme aus und warf sie starr empor, wie in einem unbezähmbaren Verlangen, den Himmel zu berühren … Sie wandte sich langsam ab, schritt weiter, folgte dem Ufer und tauchte im Buschwerk zur Linken unter. Einmal nur blitzten ihre Augen aus der Düsternis des Dickichts zu uns zurück, ehe sie verschwand.

 

Illustrationen, von oben nach unten: Sonnenuntergang, Garachico, Teneriffa; Nebel über dem Ammersee; Statue der ägyptischen Göttin Isis, 1300 v. Chr.; Kopfschmuck der Königin von Ur (2800 v. Chr. (die beiden letzten Abbildungen sind aus dem Band Eros im alten Orient von Johanna Fürstauer).

 

 

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