Leben im Kokon

Ich dachte über meine Mutter nach und die Reisen, die wir unternommen, die Zeit, die wir miteinander verbracht hatten. Und ich war unzufrieden. Ich hatte sie in all den Jahren nicht richtig gesehen, es waren routinemäßige Reisen mit viel Kultur, aber ich habe mich ihr selten liebevoll zugewandt. Nie habe ich sie so klar und offen, frei und wach angesehen wie sie mich einmal am letzten Tag ihres bewussten Lebens; wir blickten uns schweigend und verwundert an, es war ein Abschied in völliger Freiheit, und nein, es lag kein Vorwurf darin.

DSCN5171Wie schwer ist es doch, zu lieben! Alles ist so normal, wir lassen uns vom Gewohnten dahintragen und sind so mit der Organisation des Alltags beschäftigt, dass wir vergessen, was für ein Wunder es ist, mit einem Menschen unterwegs sein zu dürfen, der einem (und dem man) etwas bedeutet. Ich bin zu selten aus mir herausgegangen. Immer habe ich abgewartet und selber nur das Erwartbare getan. Dabei wartet der andere Mensch vielleicht auch auf etwas von uns: ein Signal, einen Impuls, eine spontane Handlung, eine Zeichen von Liebe und Freude.

Schwierig. Natürlich sind Wassermänner die Analytiker im Tierkreis, denen Gefüjhle zu äußern schwerfällt; auch die gemeinsam verbrachte Geschichte macht einen befangen: es gibt Episoden, die man nicht vergisst; aber ich hätte meiner Mutter sagen können, dass ich sie liebe.

Erst gegen Ende hab ich’s ihr oft gesagt. Warum tut man es nicht vorher? Man schämt sich vermutlich, wie ich mich zu Anfang auch schämte, mit meiner Mutter Hand in Hand im Altenheim herumzuspazieren, was dann ganz natürlich war. So viele Blockaden sind in uns, die uns daran hindern, uns auszuleben. Erst spät kommt man zur Besinnung und wacht auf und sieht.

Oft fragte ich mich nach einer Reise: Habe ich meine Begleiterin richtig angesehen, habe ich sie wirklich gesehen? (Im Alten Testament heißt sie erkannten sich, dass zwei sich geschlechtlich zuammenfanden.) Es scheint, als lebten wir ständig in Trance, von der Welt um uns her betört und verwirrt, wobei unsere Seele sich versteckt. Nur im Altenheim gelingt es mir, aus mir herauszugehen und mich zu geben ohne Angst, weil das meine Aufgabe ist.

DSCN5207Nach dem Tod meines Vaters hat meine Mutter (wie viele Witwen) den Rest ihres Lebens ohne Mann verbracht, also ohne körperlichen Kontakt, ohne Berührungen, quasi körperlos. Wir im Westen leben so; wir tun uns ohnehin schwer mit Berührungen. (Stattdessen treiben wir Sport.) Und jetzt haben wir sie uns völlig untersagt, damit uns die Krankheit nicht packt. Dafür frisst die Vereinsamung an uns. Jeremy Hayward schrieb in Sacred World: »Indem wir das Leben vermeiden, hungern wir uns zu Tode.«

Die Schmetterlingsraupen sondern eine Flüssigkeit ab, die an der Luft erstarrt. So bauen sie sich eine Art Iglu, den Kokon, wonach sie sich zur Puppe häuten und im Kokon bleiben, bis sie als Schmetterling ausschlüpfen. Im Kokon lässt es sich wohl sein; in ihm vermeiden wir zu viel Kontakt zu anderen, doch getrennt sind wir auch von uns selbst: die Verbindung von Kopf und Herz fehlt.

Wenn du aus dir herausgehst, triffst du auf Befremden und Verstörung. Doch nur wenn du es wagst, mit deinem wahren Ich ins Freie zu treten, wirst du selber frei und befreist auch die anderen. Du erfährst das grundsätzlich Gute (Haywards basic goodness) nur in dir selbst, und du musst die Heiligkeit deiner und unserer Welt erkennen (Sacred World), indem du auf jedes Detail achtgibst und immer bewusst bleibst. Dann spürst du vielleicht einen Impuls und merkst, dass du dem anderen zeigen willst, dass du ihn magst und er wertvoll  ist.

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Bilder: aus Santa Marinella

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