„Saiten“ mit vielen Seiten übers Velo

Das Ostschweizer Kulturmagazin Saiten hat seine April-Ausgabe hauptsächlich dem Velo (Schweizerisch für Fahrrad) gewidmet, nach neun Jahren wieder. Sehr verdienstvoll. »Was soll ich mit so einem schmierigen Kulturmagazin?« fragt die Redaktion auf der Titelseite und antwortet: »keine Ahnung«. Wenn man drin herumgelesen hat, weiß man es. Man fühlt sich nämlich vielfältig bereichert.

Verlegt wird das Magazin in St. Gallen in der Ostschweiz (70.000 Einohner), und die 3-köpfige Redaktion sitzt passenderweise in der Gutenbergstrasse. 2000 Exemplare gehen an die Miglieder des Vereins Saiten, und 3000 liegen gratis aus. Schräg sind sie drauf, sind junge Leute, und das zieht einen mit. Das Rad erscheint als Schwerpunkt auf den 26 Seiten in der Mitte.

2021-04-28-0002Erst einmal beklagt sich Anna Rosenwasser darüber, dass der Begriff Analsex mit den Schwulen assoziiert wird. Der Aufenthaltsdauer der Schweizer auf der Seite PornHub beträgt 10 Minuten: vermutlich länger als ihr gewöhnlicher sexueller Akt. Wir seien mit der Vorstellung aufgewachsen, dass Männer dominieren und Frauen unterwürfig sind. Vom Penetriertwerden könne mann jedoch einen Orgasmus bekommen, na sowas! Und Samantha Wanjiru freut sich, dass Influencerinnen auch Makel ihrer Körper demonstrieren, da fühle man sich gleich besser. Weiter hinten lobt Veronika Fischer dann das Magazin QUEER SEX – Whatever the fuck you want, erhältlich durch printmatters.ch. Soll inspirierend sein. (Bild: die Saiten-Titelseite)

Das Velo kann stolz sein, in solchem Rahmen sich bewegen zu dürfen. Langweilig sind andere, Männer etwa mit Bäuchen in ihren blütenweißen Riesenlimousinen. In dem Beitrag Bald kommt der Besenwagen beklagt Corinne Riedener die mühsam vorankommende St. Galler Velopolitik. Ist halt eine Autostadt mit dem Motto: »Vollgas versprechen und dann bremsen bei der Umsetzung.« Das ist nicht nur in St. Gallen so. Für 6,6 Millionen Franken wurde eine Brücke plus Straße zur Schwägalp saniert, und dann stritt man sich, ob ein Radfahrstreifen sinnvoll sei. Eine Veloschnellroute durch die Stadt existiert in Abschnitten. Das Vorbild ist die Westschweiz. Lausanne, Genf und die Hauptstadt Bern haben einiges erreicht.

Michael Liebi von der Berner Fachstelle Fuss- und Veloverkehr erklärt in einem Interview, auf den Berner Velohauptrouten solle man nebeneinander fahren können. Von Holland und Dänemark könne man lernen, dass der Veloverkehr stärker vom Autoverkehr getrennt sei. Bern hat seit dem Beginn ihrer Velo-Offensive 2014 immerhin 50 Prozent mehr Radverkehr. Der Gesamtanteil am Verkehr beträgt dennoch nur 15 Prozent.

028Auch in der Schweiz herrscht derzeit (wie bei uns) starke Nachfrage nach Rädern. Die Firmen kommen mit der Produktion kaum nach. Ein Velo besteht — das ist interessant — aus 250 Komponenten, die von 30 bis 50 verschiedenen Zulieferern eingekauft und dann zusammengebaut werden. Die Corona-Krise hat die Transportkosten explodieren lassen. Noch 2019 kostete es 1000 Dollar, einen Container zu verschiffen, heute das Zehnfache!

Einen Besuch stattete Roman Hertler der Schweizer Radball-Legende Jörg Osterwalder ab. St. Georgen, der Stadtteil St. Gallens, war bis in die 1990-er Jahre international erfolgreich. 1985 hätte Osterwalder mit seinem Partner Paul Oberhänsli beinahe den Weltmeistertitel errungen. Leider ist Radball untergegangen, ist heute mehr Randsportart denn je. Am beliebtesten sind Zweierteams, das Spielfeld misst 11 auf 14 Meter, man befördert mit speziellen Fahrrädern auf akrobatische Weise den Ball in ein Tor, und gespielt wird zwei Mal 7 Minuten. Ein schneller Kick.

Die »Schrüübler« von Rehetobel ist ein wohlwollender Artikel über meine Appenzeller, und dafür wurde François Cauderay interviewt, der bei manipogo oft auftaucht. Er wischt die 250 Velo-Komponenten lässig beiseite, indem er sagt, ein Velo sei »Gummi, Stahl, ein Stück Leder und viel Luft dazwischen«. Die Luft oberhalb interessierte Gustav Mesmer mehr, er wollte ein fliegendes Rad bauen, kam (gedanklich) weit damit, landete aber im Irrenhaus, und auch manipogo hat sein Leben erzählt.

Dass das Velo viel dazu beigetragen hat, die Frau unabhängiger zu machen, muss man so oft wiederholen, bis alle es wissen. Seit über 100 Jahren dürften Frauen auf Rad und Pferd ganz selbstverständlich ihre Beine spreizen, schreibt Esther Banz. Sie (die Frauen) saßen im Damensattel. Und Hosen trugen sie Ende des 19. Jahrhunderts auch nicht; das Wort »Hose« war so ungehörig, dass sie es nicht einmal in den Mund nahmen. Wäre einen extra Artikel auf manipogo wert. Zum Schluss sollt ihr euch über eine Collage des Pfahlbauers freuen für seine Kolumne Neues aus dem Sumpf; er hat die Schreibmaschine entdeckt, Corinne Riedener die Werbung für die Corona-Fahrräder. Dann gibt es ja noch das Bier Corona extra, die meistverkaufte Marke in Mexiko.

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