Der Schnecken-Telegraf

Umwerfende Dinge wurden erfunden — und dann nicht weiterverfolgt. Oder ein besseres System tauchte auf. Wäre der Äther nicht gefunden worden, hätte man noch Jahrzehnte Petienten hypnotisiert und dann operiert. Wären nicht das Morsen und das Senden durch Strahlen erfunden worden, wir hätten vielleicht noch lange Zeit uns via Schnecken unterhalten, kurios: die sofortige Übermittlung mittels eines der langsamsten Vertreter der Tierwelt. 

Willy Schrödter in seinen Grenzwissenschaftlicehn Versuchen für jedermann erwähnte das, und ich war verblüfft. Am besten schreibe ich das mal ab. Der Auszug stammt aus einem Bericht von Hugo Zeitzmann 1878, und er schildert einen Versuch, der Aufsehen erregte.

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Vor etwa 30 Jahren (also 1848) wurde das Thema von der Schnecke als elektrischem Telegraphen — zumal in Frankreich — eifrig diskutiert. … (Es) gründete sich auf die Wahrnehmung, dass, wenn gewisse niedere Tiere, wie die Schnecken, miteinander in Berührung gebracht werden, sie sich in ihren Bewegungen und Verrichtungen identifizieren. Diese Identität — so versicherte man uns — dauerte fort, auch nachdem die Tiere wieder voneinander getrennt seien, so zwar, dass, wenn man den Kopf des einen berühre, der Kopf des anderen, ob auch in größter Entfernung, die Berührung ebenfalls empfinde und dies durch eine gewisse Bewegung seines Kopfes an den Tag lege; werde der Schwanz des einen Geschöpfes berührt, so zeige auch der Schwanz des andern eine größere oder geringere Erregung und so fort.

Diese Wahrnehmung suchte man praktisch zu verwerten, indem man jeder Bewegung des Tieres eine bestimmte Bedeutung unterlegte und daraus eine Art Alphabet, bzw. ein System von verschiedenen Signalen zusammensetzte. Zwei französische Naturforscher, Allix und Benoît, waren die ersten, welche hinsichtlich der telegraphischen Fähigkeiten der Schnecken eine Reihe DSCN3998ernsthafter Versuche anstellten und das Ergebis derselben in wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlichten. Sie hatten »zwei Alphabete Schnecken«, in jedem so viele einzelne Schnecken, als das französische Alphabet Buchstaben umfasst, mithin für jeden Buchstaben eine eigene Schnecke. Jedes Paar (z. B. das A) war zunächst in Paris miteinander in Berührung gebracht worden, wodurch die beiden Tiere die instinktive oder unwillkürliche Fähigkeit erlangt hatten, zu zittern oder sich zu bewegen, so oft das eine derselben berührt wurde, wenn sie auch weit voneinander entfernt waren. Ein anderes Paar, genau ebenso behandelt, stellte das B vor und so weiter bis zum Z.

Jetzt schaffte man das eine Paar (gemeint ist: je eine Schnecke aus dem Paar der Buchstaben A bis Z) über den atlantischen Ozean hinüber: Allix operierte in Paris, Benoît in New York. Solte nun ein Wort von Paris nach der Neuen Welt »geschneckt« werden, so brachte man die den ersten DSCN3996Buchstaben desselben repräsentierende Schnecke mittels eines galvanischen Apparates vorerst in einen Zustand der Erregung. Alsbald erhielt angeblich der entsprechende Teil des Buchstabens B in Amerika den gleichen galvanischen Schlag und zeigte die analoge Unruhe, während alle übrigen Schnecken des Alphabetes vollkommen ruhig blieben, so dass kein Zweifel obwalten konnte, welche Schnecke in Paris berührt, d. i. welcher Nuchstabe vn dort telegraphiert worden war. Nachher kamen dann die übrigen Buchstaben, die zu der Botschaft gehörten, nacheinander an die Reihe.

Die Versicherung des Berichterstatters Allix, dass der keineswegs als bloße Spielerei aufzufassende Versuch, das langsamste aller Tiere als schnellsten Boten uzu gebrauchen, im allgemeinen wohl gelungen sei, klingt dem oberflächliceh Gebildeten freilich fast wie ein schlechter Spaß.

Soweit der Auszug. Die Versuche wurden nicht weiter verfolgt, da bald Kabel gelegt wurden. Doch Schrödter hat noch etwas aufgestöbert. C. P. van Bossem schrieb 1933 über andere Versuche von Allix/Benoît, die erst spät veröffentlicht wurden.

Man setze Schneckenmänner (Art nicht angegeben; wohl gleichgültig) auf die weißen Felder eines Damespielbrettes in einem Zimmer und die Schnecken-Damen auf die entsprechenden Flächen eines zweiten Damespielbrettes in einem Nebenraum. Wie immer man auch die Weibchen verschob, sofort rückten die Männchen auf die analogen Plätze.
Auch bei Proben von Paris nach Marseille über 800 Kilometer Luftlinie Entfernung.
Die praktische Nutzanwendung: zwei gleiche Buchstabietafeln (Alphabetarien) und eine mit dem Pariser verabredete Stunde zum drahtlosen Telegraphieren mit Schnecken. 

330px-Jules_Allix_1871Voilà! Einer der beiden Experimentatoren war Jules Allix (1818-1903), der aus Frankreich verbannt wurde, viele Jahre in psychiatrischen Anstalten verbrachte, als Journalist aktiv war und den Sozialismus und die Frauenrechte förderte. Wikipedia schreibt:  »Allix tat sich aber auch mit bizarren Ansichten und utopischen Projekten hervor, die seinen Geisteszustand immer wieder in Frage stellten.« Das Schneckenprojekt könnte dennoch funktionieren, nur wird sich die Bindung der zwei Schnecken nach einer Zeit etwas abschwächen; man müsste also immer neu Schnecken zusammenbringen. Morgen mehr dazu.

 

 

 

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