Verwandlungen

Zu unserem derzeitigen Thema Einheit/Verschmelzung fiel mir plötzlich etwas ein. Da war etwas … in der Kritischen Ausgabe plus. Es war mein Beitrag Verwandlungen vom 24. März 2006. Ich hatte in Büchern drei Stellen gefunden, in denen jemand sich auf jemand anderes projiziert — oder diesen Menschen in sich spürt.  

»Als ich heute essen ging, kam zu meiner Rechten ein Wagen herangefahren, wie sie von Geschäften zum Austragen von Paketen verwendet werden. Am Steuerrad saß eine Frau, von der nicht viel mehr als der Kopf zu sehen war.« Elias Canetti, der das in seinen Aufzeichnungen 1942-48 beschreibt, kennt die Fahrerin, ein Mädchen. »Das Schicksal dieses Mädchens hat mich schon immer interessiert, ich weiß aber kaum etwas über sie.« Er sieht scharf hin und spürt,

dass ihr Blick sehr bestimmt auf mir ruhte. Vielleicht ein oder zwei Sekunden noch, nachdem sie vorüber war, fragte ich mich, ob es nicht doch sie sei. Dann sah ich nach links und hatte plötzlich das Gefühl, dass ich sehr rasch an den Häusern vorüberfahre. Sie glitten genau so neben mir her, als ob ich selber in einem Wagen säße.

Wladimir Makanin steckt in seinem Roman Underground in einer Dreiecksbeziehung: er, eine Frau, ein Lastwagenfahrer.

Ich erkenne [in mir] plötzlich Details von ihm. […] Meine Hand bewegt sich wie die seine. Ich ruhe mich genauso aus, erschlafft, im Dämmerschlaf auf dem Rücken. […] Und ganz erstaunlich: Morgens schmerzen mir die Hände von seinem schweren Lenkrad. (Keineswegs im übertragenen Sinn – ich spüre wirklich ein Ziehen in den Händen.) Nachts träume ich von einer schlechtbeleuchteten, nächtlichen Straße, der Wagen holpert über ein Schlagloch, plötzlich reiße ich das Steuer herum und lenke den Laster nach rechts, auf den Feldweg, um nicht auf die zerstörte Brücke zu fahren.

Und W. G. Sebald fragt in Die Ringe des Saturn:

Wie kommt es, dass man in einem anderen Menschen sich selber und wenn nicht sich selber, so doch seinen Vorgänger sieht? Dass ich dreiunddreißig Jahre nach Michael zum erstenmal durch den englischen Zoll gegangen bin, dass ich jetzt daran denke, meinen Lehrberuf aufzugeben, wie er es getan hat, dass er sich in Suffolk und ich mich in Norfolk mit dem Schreiben plage, dass wir beide den Sinn unserer Arbeit bezweifeln und dass wir beide an einer Alkoholallergie leiden, das ist nicht weiter verwunderlich. Aber warum ich gleich bei meinem ersten Besuch bei Michael den Eindruck gewann, als lebte ich oder als hätte ich einmal gelebt in seinem Haus, und zwar in allem geradeso wie er, das kann ich mir nicht erklären.

Synthese der drei durch ein Viertes, Michael Foucault, Die Ordnung der Dinge:

Die Sympathie spielt in freiem Zustand in den Tiefen der Welt. Sie durchläuft in einem Augenblick die weitesten Räume. Vom Planeten zum von diesem beherrschten Menschen fällt die Sympathie wie von fern der Blitz. Sie kann im Gegenteil durch eine einzige Berührung entstehen. […] Sie hat die gefährliche Kraft, zu assimilieren, die Dinge miteinander identisch zu machen, sie zu mischen und in ihrer Individualität verschwinden zu lassen, sie also dem fremd zu machen, was sie waren.

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