Du bist ich: anta anȃ

Ich und Du brauchen einander, Buber hat das schön beschrieben, und wenn sie einander ganz dringend brauchen, dringen wir in den Bereich der Mystik vor, und dann sind zwei manchmal eins oder du bist ich und ich bin du; zeitweise. Alte persische Sufi-Meister haben dazu viel zu sagen, und dass das verwirrend klingt, ist normal: Vieles in der Mystik ist nicht ausdrückbar. 

Henry Corbin (1903-1978) hat das alte Sufi-Wissen in zahlreichen Büchern ausgebreitet, und einige davon kenne ich. Najmoddin Kobra (es wird sich um Naim Al-Din Kubra handeln, 1145-1221) pflegte eine Lichtmeditation, bei der ihm oft eine Verkörperung der perfekten Natur erschien, die er »Zeuge im Himmel«, seinen »persönlichen übersinnlichen Führer« nannte oder auch »Sonne des Mysteriums«, »Sonne des Herzens«, »Sonne der höheren Erkenntnis« und schließlich »Sonne des Geistes«.

Über diese Gestalt (vielleicht unser Geistführer, der uns lebenslang begleitet oder unsere Seele, die wir werden wollen) sagte Kubra: »Du bist sie.« Und er erinneert an die leidenschaftliche Stimme des Liebenden, der seiner Geliebten sagt: »Du bist ich (arabisch: anta anȃ).« Doch führe dieser Hinweis in die Irre, meint Corbin, da die erwähnte Erscheinung aus einer anderen Dimension stamme und wir ihr nicht wie einem gewöhnlichen Dialogpartner gegenübertreten könnten.

Unser Verhältnis zu diesem übersinnlichen Wesen mit den vielen Namen lass sich nur im Licht eines berühmten Sufi-Spruchs verstehen:

Wir sich selbst kennt, kennt seinen Herrn.

Die Identität zwischen sich selbst und dem Herrn ist laut Corbin (und Kubra) nicht als 1 = 1 zu sehen, sondern als 1 x 1. Es ist eine Essenz, die, mit sich selbst multipliziert, ein Ganzes ergibt aus zwei Bestandteilen und in dem mal der eine, mal der andere die Rolle von Sprecher und Zuhörer einnimmt. Wie die Mystiker sagten: Der Liebende ist selbst zur Substanz der Liebe geworden, also ist er Liebender und Geliebter. Aber er wäre nicht er selbst ohne die zweite Person, ohne dich; er braucht diese zweite Person, die ihn sich selbst sehen lässt, denn mit seinen eigenen Augen betrachtet sie ihn. So philosophisch und zuweilen fast mathematisch dachten die Sufis, aber anders war der Gedanke nicht zu fassen.

Kubras Zeitgenosse Ruzbihan Baqli (1128-1209) betonte immer, dass menschliche und göttliche Liebe  — Liebe zu einem Menschen und die Liebe zu Gott — sich nicht unterscheiden; es seien zwei Formen derselben Liebe. Der Übergang von einer zur anderen geschehe nicht, indem man ein anderes Liebesobjekt wähle; denn Gott sei das absolute Subjekt, kein Objekt. Nein, es geht um die Verwandlung (Metamorphose) des Subjekts, und im Feuer des Gefühls schmelzen alle Widersprüche dahin. Der/die ekstatisch Liebende ruft aus: »Du bist mein Herr! Ich habe keinen Herrn außer dir!« Das möge gotteslästerlich klingen, wirft Henry Corbin ein, doch es sei die Emotion, die zu dem Ausruf führe: Die lebendige Flamme der Liebe spricht.

Und so spricht sie:

Du machst mich die religiöse und die profane Welt vergessen; du bist mein Unglauben und mein Glaube; du bist die Erfüllung meiner Sehnsucht und du bist das Endziel meines seligen Verlangens; du bist ich (anta anȃ). (…) Ich lebe im Entzücken über dich und über mich, mögest du mich zu Nichts reduzieren: zu mir selbst, komme mir so nahe, dass ich denken muss, dass du ich bist.

 

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