Ganz normale Männer
Wir denken noch einmal daran, was Friedrich Schiller über den Dreißigjährigen Krieg geschrieben hat: Wollte man alles Schreckliche des Krieges (und aller Kriege) zu einem Wort verdichten, es wäre der Soldat. Ich habe ein paar Seiten von Christopher Browning gefunden, der darin sein Buch Ganz normale Männer von 1993 zusammenfasst. Da geht es um den deutschen Krieg im Osten von 1941 bis 1945.
Der Soldat im Dreißigjährigen Krieg war in die Armee gepresst worden oder irgendwie hineingeraten. Die Soldaten bekamen, wie wir erfuhren, selten Sold. Es waren wohl einfache, grobe Männer. Sie waren Kanonenfutter, der Tod wartete um die Ecke. Hier eine Schlacht, dort ein Scharmützel, und wieder lagen 3000 Tote auf dem Schlachtfeld. Da mag sie alle ein Übermut überfallen haben, eine Gleichgültigkeit, und vielleicht tranken sie Alkohol (viele Soldaten kämpften unter Drogen), und im Haufen auftretend wurden sie furchtbar. Wer nicht mittut, ist ein Schwächling und gehört nicht dazu. Dennoch: Nichts entschuldigt das Niederbrennen von Häusern, das Niederhauen von Bauern, das Vergewaltigen von Frauen.
Der US-amerikanische Historiker Christopher Browning untersuchte das Reserve-Polizeibataillon 101, das im Sommer 1941 nach Russland geschickt wurde. Es waren ganz normale und nicht mehr junge (zwischen 40 und 45 Jahren) Männer aus Hamburg. Vielleicht hatten sie sich freiwillig gemeldet. Der berüchtigte Kommissarbefehl wollte die Exekution gefangener Kommunisten, und Juden sollten ohnedies erschossen werden. Das Bataillon gehörte zu den gleichfalls berüchtigten Einsatzgruppen, die im Osten planmäßig eine Million Menschen liquidierten.
Browning schildert die ständige Indoktrinierung mit rassistischer und antisemitischer Propaganda. Zu Beginn waren die Mitglieder des Reserve-Polizeibataillons entsetzt und angewidert, doch 80 bis 90 Prozent der 500 Männer machten sich ans Töten. Wer nicht mitmachte, überließ die »Drecksarbeit« den anderen. Wer nicht schoss, wurde geschnitten und verachtet, und das war nicht schön dort in der Fremde. Das »moralische Nein« wäre auch ein Vorwurf an die Kameraden gewesen. Die Männlichkeitswerte hießen, man müsse »hart genug« sein, »um unbewaffnete, nicht an Kampfhandlungen beteiligte Männer, Frauen und Kinder zu erschießen.« Browning:
Nur sehr wenige Ausnahmecharaktere hielten stand, wenn sie von ihren Kameraden als »Schwächlinge« verspottet wurden, und konnten mit der Tatsache leben, dass die anderen meinten, sie seien »keine Männer«.
Es gab andere Männer, die ihre »Augenblicke des Mitleids« hatten, schreibt Browning; sie »können aber deshalb nicht von ihren Taten freigesprochen werden«. Das Verhalten jedes menschlichen Wesens sei komplex. Doch die Geschichte der 500 ganz normalen Männner sei nicht die Geschichte aller Männer und Menschen; man könne nicht sagen, dass jeder in ihrer Lage genauso gehandelt hätte. Die Verantwortung für das eigene Tun liege letztlich bei jedem einzelnen. Christopher Browning:
Zugleich hat das kollektive Verhalten des Reserve-Polizeibataillons 101 aber zutiefst beunruhigende Implikationen. Es gibt auf der Welt viele Gesellschaften, die durch rassistische Traditionen belastet und aufgrund von Krieg oder Kriegsdrohung in einer Art Belagerungsmentalität befangen sind. Überall erzieht die Gesellschaft die Menschen dazu, sich der Autorität respektvoll zu fügen, und sie dürfte ohne diese Form der Konditionierung wohl auch kaum funktionieren. (…) In jeder modernen Gesellschaft … wird das Gefühl für die persönliche Vereantwortung geschwächt. In praktisch jedem sozialen Kollektiv übt die Gruppe, der eine Person angehört, gewaltigen Druck auf deren Verhalten aus und legt moralische Wertmaßstäbe fest. Wenn die Männer des Reserve-Polizeibataillons 101 unter solchen Umständen zu Mördern werden konnten, für welche Gruppe von Menschen ließe sich dann noch Ähnliches ausschließen?