Was wir sind
Nachdem ich den Artikel über Carl Gustav Jungs Nahtod-Erfahrung geschrieben hatte, ließ mich nicht los, was der Schweizer darüber gesagt hatte: Die Vergangenheit sei ihm schlagartig genommen worden; er war das, was er war und schwebte zudem in einem (Zeit-)Raum, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft eins waren.
Das muss uns an die Demenz erinnern. Die Erkrankten wissen kaum mehr etwas von früher; den Besuch von eben haben sie schon vergessen; sie leben, wie man sagt, in ihrer eigenen Welt, und dennoch sind sie Persönlichkeiten, doch alles idt wie verkapselt und verschlossen.
Wir erinnern uns an viele Begebenheiten, haben viele Bücher gelesen und Filme gesehen, wir können darüber gewandt sprechen, aber recht betrachtet: Was sagt uns das? Das, wovon wir sprechen können, ist vielleicht gerade das weniger Wichtige. Es gibt Begebenheiten, die uns nicht mehr bewusst sind, die jedoch möglicherweise mächtig in uns wirken. Ich habe Tausende Bücher gelesen und sie alle vergessen, doch vieles aus jenen vielen Texten ist gewiss in mein Innerstes gelangt. Filme haben gewirkt, Musik ist in mich eingedrungen.
Der Kontakt mit der Kunst, der Philosophie und der Realität, die Konfrontation mit Gedanken und Gefühlen haben uns geprägt. Wie wir geworden sind, hängt vielleicht davon ab, was wir in uns eingelassen und was wir abgewehrt haben; was sich in unserem Innersten anlagern und wirken konnte. Nicht hängt es davon ab, woran wir uns erinnern. Wir sind unsere Vergangenheit, sie lebt in uns und macht uns aus.
Carl Gustav Jung brauchte das Vergangene nicht mehr, weil er sie war; er hatte sie nicht mehr, er war sie. Sein statt Haben (Erich Fried). So wird es sein, wenn unser Bewusstsein frei wird. Das Gehirn ist unnötig, jede Verkapselung löst sich, Demente bekommen ihren Geist wieder zurück.
Icj blicke gerade auf den Vollmond am dunklen Himmel gegen Mitternacht und denke an den alten Spruch, dass er sich absichtslos im Teich spiegelt, reglos auch, und dass auch der Teich nichts dazu tut. Wir sind, wie wir sind, vollendet in jeder Phase unseres Lebens, und wir dürfen zuversichtlich sein.