Die Maske des Roten Todes
Heute um Mitternacht endet die Faschingszeit. Man hat dann schon die Fasnacht rituell verbrannt und richtet sich auf eine ruhigere Zeit ein. Also darf ich schon wieder den Zauberstab holen und ein düsteres Szenarium heraufbeschwören. Gestern hatte Thomas Mann (1875-1955) das Wort, heute ist es Edgar Allan Poe (1809-1849), hundert Jahre vor jenem tätig.
Die Maske des Roten Todes erschien 1842. Die Rahmenhandlung erinnert an Giovanni Boccaccios Decamerone, 500 Jahre davor verfasst. Junge Adelige ziehen sich vor der grassierenden Pest in ein toskanisches Landhaus zurück und erzählen sich Geschichten, 100 Geschichten (deka heißt hundert). Seit ich im Mai 2011 über die Po-Ebene radelte, verfolgt mich ein Film, den ich einmal gesehen habe, der in einem der dortigen Landhäuser im Nebel spielt. Junge Adelige vergnügen sich, doch dann, am Ende, liegen sie alle da, wie schlafend, vielleicht von der Pest getötet. Niemand konnte mir sagten, welcher Film das war.
»Der Rote Tod hatte seit langem das Land verwüstet. Keine Pestilenz hatte je so tödlich gewütet und war je so heimtückisch gewesen.« So fängt es an. Ein scharfer Schmerz, Krämpfe, und der Tod binnen einer halben Stunde. Doch Prinz Prospero geht es gut. (Der Name wird von dem gleichnamigen Zauberer bei Shakespeare entlehnt sein, der Hauptfigur im Sturm.) Er versammelt tausend junge Leute und Freunde und zieht sich mit ihnen auf eine burgartige Abtei zurück, die mit allem versorgt ist. Die Außenwelt soll draußen bleiben. Doch das Draußen entvölkert sich, während Prosperos Freunde tanzen, jeden Tag.
Nach fünf oder sechs Monaten wütet die Pest grausamer denn je zuvor, und der Prinz lädt zu einem opulenten Maskenball. Er findet in sieben Räumen statt, die in unterschiedlichen Farben gehalten sind: blau der erste, purpur der zweite, dann grün, orange, violett, weiß und schließlich: schwarz. Der letzte Raum ist behangen mit Samt, die Fenster sind blutfarben getönt. Keine Lichter, nirgends, nur in jedem Raum ein Dreifuß mit Kohlenglut.
Im schwarzen Raum steht eine gigantische Standuhr aus Ebenholz, die zur vollen Stunde so laut und melodisch schlägt, dass das kleine Orchester mit der Musik aussetzt. Wenn die Schläge verhallt sind, spielen sie wieder, und zaghaftes Gelächter lässt sich hören. Prinz Prospero hat sich fantastische, düstere, bizarre Masken ausgedacht, die seine Freunde durch die Räume tragen wie »eine Vielzahl von Träumen«, schreibt Poe. Die Ebenholzuhr schlägt; es ist, als frören die Träume ein.
„Die Säle waren dicht bevölkert, und in ihnen schlug fiebrig das Herz des Lebens.« Die Uhr schlägt Mitternacht. Die Stille dauert länger als gewöhnlich; und die Tänzer bemerken plötzlich eine hochgewachsene Gestalt, in graue Grabeskleidung gewandet, mit einer Maske, die das verkniffene Gesicht eines Menschen zeigt, der leidend starb. Seine Kleider sind von Blut besudelt. Die Maske bewegt sich gravitätisch. Prinz Prosperos Blick fällt auf sie. »Wer wagt es, uns zu verhöhnen?« fragt er. »Reißt ihm die Maske vom Gesicht!« Die Gestalt geht feierlich auf ihn zu, niemand bewegt sich; sie schreitet weiter, durch einen Raum nach dem anderen.
Alle stehen wie erstarrt, nur Prospero reißt sich los und folgt der Maske. Im schwarzen Raum ist er drei Meter hinter ihr. Sie dreht sich um, Prospero zieht den Dolch, schriet auf und sinkt tot zu Boden. Nun sind die anderen Gäste da und stürzen sich auf den Eindringling … doch sie wühlen in leeren Kleidern voll mit Blut herum. Kein Körper. Die Gesichtsmaske liegt am Boden.
Der Rote Tod. »Er war gekommen wie ein Geist in der Nacht. Und einer nach dem anderen fielen die Gäste in den mit rotem Tau bedeckten Sälen ihrer Lustbarkeit, und jeder starb in der verzweifelten Position seines Sturzes. Und mit dem letzten der Fröhlichen blieb das Pendel der Ebenholzuhr stehen. Und Dunkelheit und Verfall und der Rote Tod hatten die unbegrenzte Herrschaft über alles.«