Der Judenstern
Der 19. September vor 80 Jahren war der erste Tag, an dem die Juden in Deutschland ihren gelben Stern anheften mussten. Wer am Tag zuvor noch munter in die Berliner Tram gestioegen war, schlich sich nun, durch den Stern gebrandmarkt, in die Wagen hinein. Die Kennzeichnung als Jude ging der Brandmarkung in den Lagern voraus; planmäßig wurde die Ausrottung eines Volkes ins Werk gesetzt.
Der Peter Wyden, 1923 als Peter Weidenreich in Augsburg geboren, zeichnete 1992 in seinem Buch Stella über eine jüdische Verräterin die Jahre des Nationalsozialismus nach und beschreibt die Vernichtung der Juden.
Ab dem 19. September durfte sich kein Jude in der Öffentlichkeit oder bei der Arbeit ohne Kennzeichnung sehen lassen, ohne den großen gelben Davidstern zur Identifizierung … Das Symbol der Ächtung musste auf der oberen linken Seite der Brust sichtbar aufgenäht, nicht angesteckt werden. Es mit einer Tasche, einem Paket oder einem anderen Gegenstand zu verdecken, war verboten. Jeder Jude musste mindestens vier Sterne bei der jüdischen Wohlfahrtsstelle kaufen. Niemand konnte sich erinnern, was sie kosteten, nur, dass sie nicht billig waren.
Einen Monat später erfolgten die ersten Deportationen nach Litzmannstadt (Lwòw), dann in Chelmno die ersten Morde durch Gas. Vier Monate später kamen höhere Funktionäre — viele mit Doktortitel — in Berlin zur Wannsee-Konferenz zusammen, die den Startschuss gab und streng geheim blieb. Man plauderte bei Kognak und fühlte sich wohl. In einem internen Papier hieß es:
An Stelle der Auswanderung ist nunmehr als weitere Lösungsmöglichkeit … die Evakuierung nach dem Osten getreten.
Die Juden sollten
in geeigneter Weise zum Arbeitseinsatz kommen … wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird. … Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird … entsprechend behandelt werden müssen.
Das war, bürokratisch verbrämt, die Sonderbehandlung und wurde der massenhafte Tod im Gas, »durch den Kamin«, wie es in Auschwitz im Jargon hieß. Die Anwesenden werden es begriffen haben und taten ihr Bestes, den Befehl zu befolgen. Von 1937 bis 1940 waren nur noch knapp 100.000 Juden außer Landes gelangt. Die Evian-Konferenz 1938 über das Schicksal der Judenheit brachte nur zurückhaltende Aussagen der europäischen Politiker, und die Vereinigten Staaten wehrten sich (wie auch die Schweiz) gegen die Einreise von vielen: 23.000 war die Quote im Jahr. Es wurde den Juden alle möglichen Hindernisse in den Weg gelegt; man wollte sie nicht haben.
Und die Nationalsozialisten wollten sie weg haben von der Erdoberfläche. Was sie mit den Juden anstellten und zu welcher Brutalität sie fähig waren, diese überzeugten Deutschen, lag jenseits jeder Vorstellung. Viele Menschen, auch Politiker, konnten es nicht glauben und schoben Informastionen darüber von sich weg. Die deutschen Henker (wie schrieb jemand: statt dem Volk der Dichter und Denker das Volk der Richter und Henker) gaben sich unerbittlich, erbarmungslos und gnadenlos, und danach verstand man erst, was diese Begiffe bedeuten können. Sie waren auch noch stolz darauf. Das, was sie aufbauten und anstellten, kam der Hölle auf Erden näher als alles, das bis dahin als Gräuel bekannt gewesen war.
Der deutsche Autor W. G. Sebald schrieb einmal in einem Beitrag über das Folteropfer Jean Améry, der Auschwitz überlebte:
In der Praxis der Verfolgung, der Folter und Extermination eines willkürlich bestimmten Feindes erblickt er (Améry) nich ein beklagenswertes Akzidens totalitärer Herrschaft, sondern, ohne jede Einschränkung, deren essentiellen Ausdruck. Er erinnert die »in mörderischer Selbstrealisierung gesammelten Gesichter. Mit ganzer Seele waren sie bei ihrer Sache, und die hieß Macht; Herrschaft über Geist und Fleisch, Exzess der ungehemmten Selbstexpansion«. Die vom deutschen Faschismus imaginierte und verwirklichte Welt war für Améry die Welt der Tortur, in der der Mensch nur noch dadurch besteht, »dass er den anderen vor sich zuschanden macht«.
Der Folterer hat Zeit und genießt seine Macht. Er weiß sich überlegen, er ist ein böser allmächtiger Geist. In chaotischen Situationen war es anders. Am Ende des Krieges wurde befohlen, die letzten Insassen der Lager abmarschieren zu lassen. Es wurden Todesmärsche, bei denen auf sinnlose Weise an den letzten Kriegstagen noch 50.000 starben. Wyder zitiert einen Augenzeugen namens Orenstein:
Die SS-Männer am Schluss der Marschkolonne suchten regelrecht nach Nachzüglern und erschossen sie auf der Stelle, als sei das das Normalste auf der Welt. Ihre Gesichter waren leer. Es war weder Hass darin, noch Mitleid; sie hatten nur eine Aufgabe zu erledigen.