Carlos Castaneda

Ich greife gern zu dem Buch Das Wirken der Unendlichkeit von Carlos Castaneda, um darin herumzulesen. Castaneda, sagt der Name noch irgendjemandem etwas? In den 1970-er Jahren kannte jeder Student, der sein Bewusstsein erweitern wollte, diesen Namen. Der peruanische Ethnologe und Schriftsteller, der von 1925 bis 1998 lebte, wurde verehrt und con anderen verrissen. Was bleibt von ihm?

service-pnp-cph-3b10000-3b18000-3b18600-3b18620rDas erste Buch, Die Lehren des Don Juan, kam auf Deutsch 1972 heraus. Castaneda schrieb in der Ich-Form über seine Begegnungen mit dem mexikanischen Schamanen Don Juan Matus, als er noch Student war. Fünf Bücher erschienen bis Ende der 1970-er Jahre, dann wurden die Abstände größer, und der zwölfte Band ist das erwähnte Wirken der Unendlichkeit, 30 Jahre nach dem Debüt veröffentlicht und im Jahr, in dem Castaneda starb. Mir gefiel darin der Satz des Schamanen, an den Erzähler gerichtet: »Die Unendlichkeit hat dich ergriffen.« Nun müsse er ihr folgen und etwa seine Freunde verlassen, er dürfe nur für das hohe Ziel wirken, der Unendlichkeit zu dienen.

Viele fessselnde Geschichten, viele Anekdoten, viel Theorie bietet der Peruaner. Es wird noch viele Fans von ihm geben, und ein solcher hat wohl auch den (ungewöhnlich) langen deutschen Wikipedia-Beitrag verfasst. Jedenfalls traf der Autor einen Nerv und konnte schreiben. Er wird Millionen Menschen in aller Welt beeinflusst und fasziniert haben. Kann man sich mehr erhoffen?

service-pnp-ppmsca-39800-39869rDie akademische und die publizistische Welt zerpflückten bald die Bücher. Es wurde offenbar, dass vieles in den Büchern herbeizitiert war und anderen Quellen entnommen, dass Castaneda die Kultur der mexikanischen Yaqui-Indianer überhaupt nicht kannte und Don Juan Matus gar nicht gelebt hatte (oder ein anderer war oder aus verschiedenen Personen zusammengesetzt). Castaneda schrieb eben Literatur und tat so, als hätte er es selbst erlebt. Das ist legitim.

Wenn jemand akademischen Slang verwendet und sich seriös gibt, während er munter erfindet und fantasiert, fühlt sich die Wissenschaft verschaukelt. Und die Medien wollen immerzu wissen: Was ist dran an der Geschichte? Hat der Autor das selbst erlebt? Das ist kindisch und neben dem Punkt. Literatur ist eine andere Dimension.

Mexico 057

 

Castaneda selbst reagierte klug, indem er gar nicht reagierte. Er kaufte sich eine Villa bei Los Angeles und umgab sich mit fünf Frauen, zum Teil Ex-Studentinnen wie er. Sein Leben blieb mysteriös, wie sein Tod es war, der erst zwei Monate danach durch seinen Sohn bekanntgegeben wurde. Die fünf Frauen verschwanden, nur das Skelett von einer wurde in einer Wüste gefunden; vielleicht nahmen sie sich nach dem Tod ihres Gurus alle fünf das Leben. Irgendwie verschlang sie eine Fiktion.

Die normale Wirklichkeit jedoch ist nicht immer anschaulich genug, manchmal muss man nachhelfen und das Material in Form bringen. Das tut Kunst. Fellini wusste, dass das gefilmte Meer nicht gut wirkt; er filmte eine sich wellende Plastikfolie, das gab einen Effekt. Castaneda holte lässig immer neue Kaninchen aus seinem Hut, und Humor fehlte nicht, und überraschend Einfälle ließen einen stutzen. Damit veredelte er das Schamanentum und brachte es fertig, dass Bewusstseinserweiterung nicht eine Sache der Drogen blieb oder der spirituellen Mystiker, sondern dass sie mit einer Technik zusammengebracht wurde.

Mexico 148

 

Die Romanschreiber haben ja immer so getan, als sei das Werk irgendwo aufgefunden oder jemandem diktiert worden; die Fiktion, der Roman sei wahr, ist ein gängiges Spiel. Und mir fallen da noch die großen deutschen Fabulierer ein, etwa Wolfgang Hildesheimer (1916-1991), der Marbot schrieb und darin einen jungen Kunsthistoriker vorstellt, der mit den Größen seiner Zeit verkehrte und ein Buch hinterließ, doch dieser Sir Anthony Marbot war halt erfunden. Auch in Lieblose Legenden (1952) erfand er Leute und tat das so gekonnt, dass man meinen musste, sie hätten gelebt.

Später hat Ror Wolf (1932-2020) mit der ihm eigenen Sprachwucht und gestalterischen Kraft kleine Gestalten aufs Papier geworfen und so getan, als seien sie historisch. Und denken wir an den Spiegel-Autor, der vor ein paar Jahren Geschichten erfand oder aufpolierte, und an die Hitler-Tagebücher. Die Welt ist eine Konstruktion, und das, was uns wahr vorkommt, ist manchmal nur genial erfunden und hat seine eigene Wahrheit.

 

Illustrationen: Oben zwei Fotos von Edward S. Curtis (1868-1952), die als Opfer an die Sonne 1927 gedruckt wurden (Dank an Library of Congress, Wash. D. C.); unten 2 Bilder von Giovanna Braghetti aus Mexiko, farblich verfremdet

 

Die Kommentarfunktion ist derzeit geschlossen.