Die Helfer (9): Hilfe auf der letzten Reise

Im vorerst letzten Beitrag (vielleicht Fortsetzung der Serie nächstes Jahr) greifen wir auf einen Roman von Selma Lagerlöf (1858-1940) zurück, Jerusalem, von dem ich vor vier Jahren einmal gesprochen habe. Teile der Handlung spielen auf dem Schiff L’Univers, das 1880 von New York nach Le Havre fährt. Wir begegnen einem alten französischen Seemann. Das Buch habe ich auf Schwedisch und bin stolz, dass ich die Geschichte entschlüsseln konnte.

IMG_0659Ein alter französischer Matrose lag in seiner Hängematte und fand keinen Schlaf. Das Holz knackte und knarrte, doch das war es nicht, was ihn am Einschlafen hinderte. Im Dämmerlicht sah er die grauen Kojen mit ihren Schläfern hin- und herschwanken. »So etwas wie das Meer findest du nicht wieder«, dachte der alte Seemann. Als er das dachte, wurde es plötzlich wunderlich still um ihn her, als wäre das Schiff plötzlich zum Meeresgrund gefahren mit seinen Kollegen … Er dachte, dass doch das gewöhnlich laute, durchsichtige Meer über ihnen ruhte und kein dunkler, quälender Friedhof. Dann aber wurde er unruhig. Er war besorgt, dass seine Seele Schaden nehmen könnte, wenn er ohne die letzte Ölung stürbe. Würde er ohne sie den Himmel dort oben ausfindig machen können?

IMG_0666Und dann schimmerte ein schwaches Licht außerhalb. Schnell merkte er, dass einige Personen mit brennenden Lichtern in den Händen kamen. Er beugte sich immer weiter aus seiner Koje, um ausmachen zu können, wer sich da näherte. Die Kojen hingen so dicht, der Fußboden war ganz nah, und wer durch den Gang sich bewegte, musste die Schlafenden schubsen oder stören. Wer kam da? Der alte Seemann wusste es schnell. Es waren zwei kleine Ministranten, die Wachskerzen in den Händen hielten. Er sah ihre schwarzen Kappen auf den kurz geschnittenen Haaren. Den Seemann wunderte das nicht einmal; er dachte sich schließlich, dass es ganz natürlich war, dass die Ministranten unter den anderen Seeleuten durchkamen, da sie ja so klein waren.

IMG_0661»Ich frage mich, ob ihnen ein Priester folgt«, dachte der Seemann. Sofort hörte er das Klingeln einer kleinen Schelle und sah, dass jemand den beiden hinterherkam. Doch das war kein Priester, sondern eine alte Frau, die viel größer war als die Ministranten. Die Frau kam ihm bekannt vor. »Das muss meine Mutter sein«, sagte er sich. Keine andere als seine Mutter konnte derart still und leise dahingehen, ohne die Seeleute zu wecken. Er sah, dass sie über ihrem schwarzen Kleid einen langen Umhang mit weißem Besatz trug, gerade so, wie ihn ein Priester hatte. Sie trug das alte, golden eingefasste Messbuch, das er tausend Male neben dem Altar in seiner Dorfkirche liegen hatte sehen. Die kleinen Ministranten ließen sich neben seiner Hängematte nieder und gingen in die Knie, wobei sie das Weihrauchfass schwangen. Der Seemann roch den Duft, sah den Rauch blau aufsteigen und hörte das Quietschen, während das Fass sich bewegte.

Währenddessen schlug seine Mutter das alte Messbuch auf. Er dachte, dass sie das Totensakrament lesen würde. Nun fühlte er sich gut und leicht, als ruhte er schon auf dem Grund des Meeres. Das war besser als auf dem Friedhof. Er streckte sich in seiner Koje aus und hörte seine Mutter bald lateinische Worte murmeln. Dann endete es. Die Ministranten nahmen ihre Kerzen wieder auf und gingen der Mutter voraus, die das Buch hart zuschlug und ihnen folgte. Er sah, wie die drei unter den vielen Kojen verschwanden. Im selben Augenblick war es mit der Stille vorbei. Er hörte seine Kameraden, die Winden quietschten, alles war in Bewegung. Der Seemann fragte sich: »Jesus Maria, vad ska det betyda, som jag har sett i natt?« Was bedeutet das wohl, was ich diese Nacht gesehen habe?

Zwei Minuten später traf ein heftiger Stoß L’Univers mittschiffs. Es klang, als wäre sie entzweigebrochen.

Verwirrung entstand, und die anderen Seeleute sprangen halbnackt aus ihren Kojen, während der alte Seemann bedachtsam seine besten Kleider anlegte. Der Vorgeschmack des Todes lag ihm mit großer Seligkeit auf den Lippen. Er dachte sich schon daheim und dort, wo er hingehörte, dort unten auf dem Meeresgrund.

 

Die Mutter des Matrosen zeigte ihm durch ihr Auftreten, dass er dem Tod geweiht war. Sie erfüllte sogar seinen letzten Wunsch: die Ölung, die Salbung. Derart vorbereitet, nahm der Mann hin, was geschehen würde und konnte ruhig sterben. Man wundert sich immer wieder, mit welcher Sicherheit kranke Menschen ihren Todeszeitpunkt vorheragen und dann auch Recht behalten. Jemand wird es ihnen sagen.

 

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