Der zerstörte Tempel

Wenn er über den unseligsten Tag der Menschheit nachdenke, schrieb einmal der bayerische Theologe Ignaz von Döllinger (1799−1890), dann komme ihm am ehesten der 13. Oktober 1307 in den Sinn, als König Philipp der Schöne in einer Kommandoaktion alle Templer Frankreichs festnehmen und einkerkern ließ. Jeweils am 18. März wird dessen gedacht.

Der 18. März ist der Todestag des letzten Großmeisters der Templer, Jacques de Molay. An jenem Tag wurde er 1314 zusammen mit Geoffroy de Charnay in Paris auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Die ruhmreiche Geschichte der Templer war zu Ende. Zacharias Werner (1768−1823) hat ihnen mit seinem Stück Die Templer auf Cypern (1803) ein Denkmal gesetzt.  In einer Kapelle am Cirque de Gavarnie in den Pyrenäen ruhen die Leichname von sechs Tempelrittern. Genau am 18. März nähert sich ein Ritter, der kein Leichentuch trägt, sondern den langen weißen Mantel mit dem roten Kreuz. Er ist wie für einen Kampf gerüstet und trägt eine Lanze.  

Mit langsamen Schritten geht er in die Mitte der Kapelle und schreit so laut, dass es aus den Bergen widerhallt: »Wer wird den heiligen Tempel verteidigen? Wer wird Christi Grab befreien?« Auf diese Rufe hin beleben sich die sechs Tempelritter, beginnen sich anzukleiden und antworten: »Niemand! Niemand! Niemand! Der Tempel ist zerstört!«   

Der französische Islamist Henry Corbin (1903−1978) weist in seinem Buch Temple et Contemplation (1986) im Kapitel Imago Templi darauf hin, dass das Konzil von Konstantinopel 869 die alte gnostische Triade Geist/Seele/Körper zerschlagen habe. Von da an gab es nur mehr Seele und Körper. Und die Kirche war streng.  

In der orientalischen Gedankenwelt waren es die Engelwesen, die über die Zwischenreiche wachten, in denen Visionen und Träume Gestalt annahmen. Seither ist unsere Welt verarmt. Descartes setzte den Siegel darauf, und die Naturwissenschaften machten die Arbeit von Paracelsus und Agrippa im 16. Jahrhundert vergessen, die Magier und Heiler waren und Herrscher über das Wort. (Fotos: Templerkirche aus dem 11. Jahrhundert in Trani, Apulien.)

Seither versprüht sich die menschliche Phantasie folgenlos in unterhaltsamen Büchern, und wir stehen in unserer Welt, in der Krypta des geistigen Tempels, in der wir im Exil sind. Corbin schreibt: »Die Schwierigkeit ist, dass die meisten Menschen außerhalb ihrer selbst leben und nie zu sich selbst gefunden haben. Die Wahrheit des Imago Templi ist, würde ich sagen, uns im Inneren von uns selbst außerhalb von uns selbst zu finden.« So suchen wir verzweifelt den Weg zur wahren Welt.       

 

 

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