Die schöne Kurtisane

Das chinesische Dekameron, eine Ausgabe der Büchergilde Gutenberg aus den 1950-er Jahren, fand mein Interesse, aber so erotisch war das nicht, China ist vielleicht nicht so freizügig, und das Deutschland der 1950-er Jahre erst! Doch eine Geistergeschichte hat mir gefallen, in der die schöne Kurtisane (Prostituierte) Siä-Dau die Hauptrolle spielt.

So fängt es an:

Während der Regierungszeit des Ming-Kaisers Hung Wu lebte in der Stadt Kanton ein junger Mann namens Tjän, der Meng-I gerufen wurde.

Hung Wu lebte von 1328 bis 1398 und regierte ab 1368; er gründete die Ming-Dynastie, die bis 1644 China beherrschen sollte. Meng-I war gutaussehend, klug und charmant und lebte in der Stadt Tschou-tou, bei den Eltern. Als diese nach Kanton zurückgingen, blieb der Sohn und OIP.Gz0bMahYl1Mj50Z85BUBUwHaHZverdingte sich als Hauslehrer bei Herrn Tschang. Zum Frühlingsfest wollte Meng-I zu seinen Eltern reisen, zu Fuß. Sein Chef gab ihm zwei Silbermünzen. Meng-I wanderte also dahin und kam durch einen Hain von Pfirsichblüten, als er von einem schönen jungen Mädchen beobachtet wurde. Verwirrt ging er weiter, verlor dabei aber seine Münzen, die eine Dienerin der Schönen ihm nachbrachte. Andern Tags ging Meng-I absichtlich den selben Weg — und vor einem Haus stand die junge Dame mit ihrer Dienerin. Der junge Mann bedankte sich; sie bat ihn herein. Sie verbeugten sich mehrmals, wie es die Sitte verlangte, und die Dame erklärte, sie sei weitläufig mit Meng-Is Herrn verwandt, nun aber Witwe.

Da wollte Meng-I gehen (es ist unschicklich, als Alleinstehender eine Witwe zu treffen), doch sie lud ihn ein zu bleiben. Es gab Abendessen, es wurde getrunken und geplaudert. Sie legte ihm sogar Texte von Dichtern aus der Tang-Dynastie (617-907) vor, echte Kostbarkeiten. Mittlerweile war es zehn Uhr am Abend geworden, und Meng-I hatte genug getrunken. Und nun, und die Leserin im Deutschland der 1950-er Jahre reibt sich die Augen:

service-pnp-jpd-02000-02065rDie schöne Dame aber geleitete ihn in ihr Schlafzimmer, legte dort ihren Schmuck ab und sagte:
»Schon seit langer Zeit  lebe ich in diesem Hause in völliger Einsamkeit. Nun habe ich heute abend Eure Höflichkeit und Liebenswürdigkeit kennengelernt, und ich kann mir nicht versagen, Euch ein wenig meine Liebe zu bezeigen. Darum schlage ich Euch vor, mir heute nacht Gesellschaft zu leisten.«
»Das ist mein sehnlichster Wunsch«, rief Meng-I aus. »Aber ich hätte niemals gewagt, Euch darum anzugehen.«
Darauf entkleideten sie sich und gingen gemeinsam auf das Bett zu. Sie waren glücklich wie zwei im Wasser spielende Fische und vergaßen über ihrer Liebe die Welt um sich herum. Sich wohlig auf den Kissen streckend, legte die schöne Dame Meng-I eindringlich ans Herz, vorsichig zu sein und nichts auszuplaudern.

Meng-I sagte also seinem Brotherrn, seine Mutter wünsche, dass er stets in ihrem Haus schliefe; und seine Eltern waren überzeugt, dass er in der Schule seine Nacht verbrachte. So hatten die Liebenden viele schöne Stunden und Nächte. Jede der beiden schrieb Gedichte, und in dieser Kunst vervollkommneten sie sich. Aber … »das Unglück will es, dass das Gute niemals von Dauer ist«.

Es kam, wie es kommen musste: Meng-Is Chef und dessen Vater treffen sich zufällig; der junge Mann ist enttarnt. Man stellt ihn zur Rede, er muss alles zugeben. Wieder bei seiner schönen Geliebten, gestand er ihr, dass ihr Verhältnis offenbar geworden sei. Das Schicksal sei nun nicht weiter aufzuhalten, sagte sie und weinte: »Wir werden auf immer getrennt sein.« Sie schenkte ihm ein Schreibset aus der Tang-Dynastie, und unter heißen Tränen nahmen die beiden voneinander Abschied.

Der Vater des jungen Mannes zeigte sich versöhnlich, als er alles erfahren hatte, zumal das Schreibset überaus kostbar wirkte. Meng-I solle ihn zu dem Haus führen. Dieser nahm den Pfad, den er nunmehr so gut kannte und rief plötzlich aus: »Das Haus ist ja nicht mehr da!« Glitzerndes Wasser, Pfirsichbäume, Gehölz und ein Grabmal, um das herum man den Pfirsichhain gepflanzt hatte. Dort ruhe eine schöne Kurtisane, wusste man, über die es in einem Gedicht aus der Tang-Zeit heiße:

Zarte Pfirsichblüten bedecken Sjä-daus Grab.

Herr Tschang behauptete, die schöne Dame sei wohl Sjä-dau gewesen. Auf den Pinseln des Sets sei der Name eines Gouverneurs eingraviert, dessen Konkubine Sjä-dau gewesen war, die um 1350 vermutlich schon ein paar Jahrhunderte tot war. — Meng-I erwarb in Kanton den Doktortitel, aber Sjä-dau traf er in diesem Leben nicht mehr wieder, und nie mehr war er so glücklich wie damals.

 

Bild unten: Itsutomi, von Hosada Eishi (1756-1829); Dank an die Library of Congress, Washington D. C.

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