Dem Liecht entgäge

Wir warten ja auf das Licht, und morgen werden wir den kürzesten Tag des Jahres haben (Sonnenuntergang um 16:02 Uhr), wonach die Tage unmerklich wieder länger werden. Die erste Prüfung haben wir geschafft. Der Titel ist übrigens ein Erzählband von Beat Jäggi (1915-1989) zu Weihnachten, doch vor dem Licht müssen wir noch über den Wahnsinn sprechen, das macht vieles klar.

Chögyam Trungpa wieder. 1971 sagte er seinen Seminarteilnehmern:

Wir sind sowieso verrückt, mehr oder weniger. Wir sind wohl nicht total verrückt, solange wir nicht in Raserei verfallen — religiöse Raserei, politische Raserei —, solange wir also die Kontrolle nicht vollständig verlieren. Da ist die ganze Zeit so eine Art mittelschwerer Wahnsinn, der in absoluten Wahnsinn umschlagen kann. Eben das ist Samsara — Wahnsinn. Und das, was nicht Wahnsinn ist, wird Erleuchtung genannt. Wenn wir sagen, dass es Wahnsinn gibt, dann ist zugleich damit gesagt, dass es etwas geben muss, was nicht Wahnsinn ist — und das ist Erleuchtung.

Erleuchtet sind wenige, wenn wir Erleuchtung als Kontakt mit dem Göttlichen definieren, der zu Verzückung und einem Gefühl des Auserwähltseins führt. Das wäre wiederum für unsere Mitmenschen Wahnsinn. Alles Definitionssache. Die Begegnung mit dem Licht könnte aber zu einer anderen, schwächeren Erleuchtung führen: zu einer Erkenntnis, die den Blick von oben gewährt auf uns und die, die um uns sind. Plötzlich sähe man, was abgeht und seine eigene Rolle in dem Spiel. Dann müsste man eigentlich sein Leben ändern.

Unser Wohlstand war ein Geschenk des Teufels. Wozu brauchen wir noch das Licht, wenn wir mittels LED mit geringen Kosten die ganze Straße taghell erleuchten können? Was sage wir dem Missionar, der an der Tür läutet und ausruft: »Bekehrt euch, das Reich Gotttes ist nahe?«

Unser kleiner Supermarkt im Ort wurde vor vier Wochen geschlossen. Also muss man die Edekas in Dottingen, Staufen oder Buggingen aufsuchen oder den Rewe in Heitersheim. Da gibt es ja alles. Vorher waren meine Einkäufe von menschlichen Begegnungen mit den 5 Mitarbeitern begleitet, die ich gut kannte. Man griff sich die Sachen, plauderte ein wenig, zahlte und ging. Nun irre ich durch die Gänge der großen Märkte, stopfe die Sachen in den Korb, zahle und gehe. — Nein, stimmt nicht. Heute war ich dort, redte mit Martin und dem netten Schwaben, der seinen Hund spazierenführt und sprach eine junge Angestellte an.

Bürger fahren in der riesigen Limousine die 500 Meter, die sie vom Supermarkt trennen und laden deren Kofferraum voll. Es gibt Familien, die haben vor dem Haus 4 Autos: für Mutter, Vater und die beiden erwachsenen Kinder. Alle gehen zum Einkaufen und verschwinden wieder in ihren Häusern. Dann setzen sie sich vor den Computer, und sind sie unterwegs, lesen sie auf dem Smartphone. Wir leben so vereinzelt. Wir haben alles, sind aber einsame Menschen in ihrem Kokon aus Bedürfnissen und Begehrlichkeiten und Neugier und Langeweile geworden. Wir wählen unter 25 Sorten Schokolade und 20 verschiedenen Duschgels, wir haben Lachs aus Norwegen und Fleisch aus Argentinien, können aber auch gesund leben wie nie zuvor jemand in der Geschichte, doch wofür?

Was wir hier, wenn wir gesund an Geist und Leib und Geld haben, unternehmen können, »ist der Wahnsinn«, sagte ein guter Bekannter wörtlich. Wir haben von allem zuviel, es ist alles aus dem Ruder gelaufen, neben der Kasse stapeln sich Hunderte Packungen mit Lebkuchen, wem macht diese Masse noch Appetit, wer braucht die noch, wem machen die noch Freude?

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Eine Einschränkung aber muss sein. Da wird das majestätische Wir verwendet, das auf den Großteil der Bevölkerung nicht zutrifft. In meinem Umkreis leben eben viele wohlhabende Rentner. Doch uch in Deutschland herrscht eine Kluft zwischen den Bessergestellten und den anderen. Ein Drittel hat keine Ersparnisse, und viele haben Familie oder müssen Miete zahlen oder für ein Darlehen, da reicht ein Gehalt knapp, und ich bin sicher, die in der Pflege Tätigen haben es alle nicht so dicke. Da freut man sich über das Angebot und nutzt, was man kann.

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