Das Rätsel der Zeit

Wir werden es nicht lösen, das Rätsel der Zeit. Sie ist da und scheint nicht zu tilgen zu sein, jedoch fehlt sie in der Jenseits-Dimension oder ist irgendwie erstarrt. Zwei Zitate, die ich gefunden habe, geben etwas Aufschluss, aber wir haben Mühe, uns eine »allumfassende Gegenwart« oder eine Nicht-Zeit vorzustellen.

DSCN4307Über eine »umfassenden Gegenwart« hat schon der Physiker Carl Friedrich von Weizsäcker spekuliert, und ich habe ihn darüber zitiert. Eigentliche Ereignisse gebe es nur in dieser Gegenwart, und wenn wir jede Winzigkeit, die geschieht, als »individuellen Prozess am Gesamtobjekt« betrachten (an der Welt), dann verändert jede Winzigkeit den Zustand dieses Objekts (die Welt), alle Zustände der Vergangenheit wären aufbewahrt (da sie den heutigen Zustand beinflusst haben), und die Geschichte wäre »ein einziger individueller Prozess in einer allumfassenden Gegenwart«. Das würde Zeitreisen erlauben, da die schier unendlichen Welten der Vergangenheit irgendwo aufzufinden sind.

Ernst Meckelburg hat in seinem Buch Zeitschock einen Mann (Herrn K.) zitiert (S. 296-299), der 1982 eine außerkörperliche Erfahrung hatte und meinte, oberhalb der Erdoberfläche geschwebt zu sein. Eine nebelhafte Gestalt erklärte ihm vieles.

Zu dem Begriff »Zeit« befragt, wurde mir bedeutet, dass »Zeit« für diese Wesen etwas »Feststehendes« sei. Relativ zu dieser feststehenden Zeit würden sie sich wie auf einem unbeweglichen Transportband vor- und zurückbewegen.

Man zeigte ihm eine Szene 300 Jahre vor uns. Die Sache mit dem Transportband überzeugt uns nicht so recht, sie wird nicht plastisch, also geht K. in die Details (und uns fällt die Gleichzeitigkeit des Nebeneinanders ein, das eine Frau erwähnt hatte):

005Die Zeit liegt wie ein ruhendes Fließband vor ihnen. Ich erwähne dieses Beispiel, weil das Leben auf der Erde in gleicher Weise vor mir ausgebreitet war. Ich blickte in eine Richtung, bis mein Auge nichts mehr erkennen konnte — in die Zukunft. Zur arretierten Zeit gab es eine weitere Dimension, in der sich gleichzeitig Unterschiedliches ereignete. Einfacher ausgedrückt: Auf dem ruhenden »Fließband«, das eine ziemliche Breite besaß, lag alles, was gleichzeitig passierte, nebeneinander, so dass man sich nicht nur in beide Fließbandrichtungen hin und her, sondern auch noch quer zum Rand, in der Breite, bewegen konnte. Die statische Zeit wurde praktisch erst durch die Bewegung der Wesen belebt. Wie man mit der Zeit umgehen konnte, wurde mir unmittelbar vorgeführt: Ich konnte an mir selbst vorbeifahren und mich in einer anderen Altersstufe beobachten. Dass ich mich mühelos durch Mauern und andere Hindernisse hindurchbewegen konnte, war für mich so selbstverständlich geworden, als hätte ich zuvor nichts anderes getan.

Herr K. konnte dies alles, weil er mit demselben feinstofflichen Körper unterwegs war wie die Wesen, die wir Verstorbene nennen. Natürlich können sie überall hin, und W. G. Sebald beschreibt schön einen Traum in seinem Roman Austerlitz und knüpft daran seine Überlegungen:

Einmal träumte es mir, ich sei nach langer Abwesenheit zurückgekehrt in die Prager Wohnung. Alle Möbelstücke stehen an ihrem richtigen Platz. Ich weiß, dass die Eltern bald aus den Ferien eintreffen werden und dass ich ihnen etwas Wichtiges geben muss. Davon, dass sie seit langem tot sind, habe ich keine Kenntnis. Ich denke nur, sie sind schon uralt, so um die neunzig oder hundert herum, wie sie es in Wirklichkleit wären, wenn sie noch lebten. Aber als sie dann endlich unter der Türe stehen, sind sie höchstens Mitte Dreißig. Sie treten ein, gehen in den Zimmern herum, nehmen dies und jenes zur Hand, sitzen eine Weile im Salon und reden miteinander in der rätselhaften Sprache der Taubstummen. Von mir nehmen sie keine Notiz. Ich ahne schon, dass sie gleich wieder abreisen werden an den Ort irgendwo im Gebirge, an dem sie jetzt zu Hause sind. (jetzt: Absatz von mir)

SDC10438Es scheint mir nicht, sagte Austerlitz, dass wir die Gesetze verstehen, unter denen sich die Wiederkunft des Vergangenen vollzieht, doch ist es mir immer mehr, als gäbe es überhaupt keine Zeit, sondern nur verschiedene, nach einer höheren Stereometrie ineinander verschachtelte Räume, zwischen denen die Lebendigen und die Toten, je nachdem es ihnen zumute ist, hin und her gehen können, und je länger ich es bedenke, desto mehr kommt mir vor, dass wir, die wir uns noch am Leben befinden, in den Augen der Toten irreale und nur manchmal, unter bestimmten Lichtverhältnissen und atmosphärischen Bedingungen sichtbar werdende Wesen sind. Soweit ich zurückblicken kann, sagte Austerlitz, habe ich mich immer gefühlt, als hätte ich keinen Platz in der Wirklichkeit, als sei ich gar nicht vorhanden …  

 

 

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