Alles lebt

Heute nur einen kurzen Auszug aus dem Roman Schoscha von Isaac Bashevis Singer (1904-1991), der mich eine Woche gefesselt hat. Chaiml sitzt in Haifa acht Jahre nach dem Krieg, also 1953, seinem Freund Aaron gegenüber, den er Tsutsik nennt, und setzt zu einem Monolog an, der zu einem leidenschaftlichen Bekenntnis zum Weiterleben nach dem Tod wird, gestützt auf seine Erfahrungen und ein tief sitzendes Gefühl. Das sollten wir uns anhören.

Chaiml sagt also:

»Kaum ist man hier, so wird man nicht eine Minute in Ruhe gelassen. Gut, über Sie stand es in der Zeitung, aber wie hat man erfahren, dass ich gekommen bin? Leute haben mich aufgesucht, die ich längst beerdigt glaubte. Jede solche Begegnung war wie die Auferstehung der Toten. Wer weiß? Wenn wir das Wunder erleben konnten, dass die Juden wieder ein Land haben, so werden wir vielleicht auch noch das Kommen des Messias erleben. Vielleicht gibt es wirklich eine Auferstehung der Toten? Tsutsik, Sie wissen, ich bin ein Freidenker. Aber irgendwie tief innen habe ich das Gefühl, dass Celia hier ist, dass Morris hier ist, dass mein Vater — er ruhe in Frieden! — hier ist. Auch Ihre Schoscha ist hier. Wie ist es denn möglich, dass jemand einfach verschwinden gräbersrikann? Wie kann jemand, der gelebt, geliebt, gehofft hat und mit Gott und sich selbst gehadert hat, einfach aufhören? Ich weiß nicht, wie und auf welche Weise, aber sie sind hier. Da Zeit eine Illusion ist, warum sollte nicht alles bestehen bleiben? Ich habe Sie einmal sagen oder zitieren hören, dass die Zeit ein Buch ist, dessen Seiten man nur vorwärts, nicht rückwärts blättern kann. Wir können es vielleicht nicht, aber möglicherweise können es irgendwelche Kräfte. Wie kann Celia aufhören, Celia zu sein? Oder Morris nicht mehr Morris sein? Ich lebe doch mit ihnen, spreche mit ihnen. Manchmal höre ich Celia zu mir reden. Sie werden das nicht glauben, aber Celia hat mich geheißen, meine jetzige Frau zu heiraten. Ich lag damals in einem Lager in Landsberg, krank, hungrig, einsam und niedergeschlagen. Plötzlich hörte ich Celias Stimme: ›Chaiml, heirate Genia!‹ So heißt meine Frau, Genia. 
(…)
Tsutsik, ich kann mich mit allem aussöhnen, nur nicht mit dem Tod. Wie ist es möglich, dass diese vielen Generationen tot sind, und nur wir Schlemihle sind angeblich am Leben? Man blättert die Seite um, und man kann sie nie wieder zurückblättern, aber auf der und der Seite sind sie alle da, in diesem Archiv der Geister. … Vielleicht sind wir auch schon dort und träumen den gleichen Traum. Entweder alles lebt, oder alles ist tot.« 

 

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