Die Tabula Smaragdina
Die Smaragdtafel des Hermes Trismegistos zeigt uns einen der wichtigsten Texte der Alchemie. Das Original der Tafel ist unbekannt, in welcher Sprache die Inschrift verfasst wurde, weiß man nicht, und Hermes Trismegistos ist eine Figur aus der Legende, gilt aber als der Begründer der mittelalterlichen Alchemie. Was wissen wir eigentlich, was bleibt dann noch übrig?
Wir haben den Wortlaut, der in die vermutlich grüne Tafel eingeritzt war. Der mutmaßliche Autor Hermes Trismegistos war vielleicht König in Theben und traf Moses; er wird aber auch mit dem griechischen Gott Hermes identifiziert oder erhielt Charakterzüge von ihm. Vor Jahren stellte ich Hermes mit einem Auszug aus Helmut Gebeleins »Alchemie« vor, nun ergänze ich das mit Sätzen aus dem Buch Hermes der Seelenführer von Karl Kerényi (1897-1973), 1944 in Zürich erschienen. Der ungarische Mythenforscher Kerényi hat mit Carl Gustav Jung zusammengearbeitet und schreibt über Hermes, er sei einer, »der sich gern einem zugesellt, gern einen erhört und gern auch unbemerkbar macht — er ist ein Geleiter.«
Der römische Dichter Horaz schrieb in seiner Ode 1,10 über Merkur, wie Hermes in Rom genannt wurde:
Du bringst die frommen Seelen zur Ruh an seligen
Stätten, mit dem Stabe lenkst du die leichte
Schar, dem goldenen — den oberen Göttern
Freund wie den unteren.
Hermes ist der Bote der Götter (αγγελος, also Engel, was auch Bote bedeutet) und »schnell wie der Tod«, denn er trägt Flügel an den Schuhen. Der beliebte Gesell versteht sich gut mit der schönen Aphrodite (siehe den Begriff Hermaphrodit), wirkt aber zuweilen mondhaft wie Hekate, die Göttin der Finsternis. Gut ist er nicht zu durchschauen, der Hermes, er bleibt im Schatten, ist überall und nirgends. Hermes ist der Herold zwischen dem Seelenreich und der Welt der Geborenen. Er gilt zudem als Erfinder der Sprache. Auch Karl Kerényi wird lyrisch-beschwingt:
Der Urbote und -Mittler bewegt sich zwischen dem absoluten Nein und dem absoluten Ja … zwischen zwei Feinden, zwischen Weib und Mann. Er steht da auf einem Grund, der keiner ist, und schafft den Weg. (…)
Allen, für die das Leben Abenteuer ist — ob Liebes- oder Geistesabenteuer — ist er der gemeinsame Führer. Koinos Hermes!
Hermes ist ein Archetypus im Sinne Jungs: ein möglichst unauffällig wirkender Mediator und Vermittler (Journalisten und alle, die in Streitsachen vermitteln, sollen unparteiisch und sozusagen unsichtbar sein), und womöglich steht er auch zwischen Gut und Böse, Energie und Materie, dem Manifesten und Verborgenen wie die schattenhafte elfte Sefirah Da’ath in der jüdischen Kabbalah, die Erkenntnis, die gleichwohl alle anderen Sefiroth in sich aufnehmen kann; was nichts ist, kann alles sein und dem Ganzen eine Seele verleihen.
So richtig habe ich die Kannalah nie dargestellt, das war mir ein zu großes Ding. Die zehn Namen Gottes, mit denen er sich auf Erden kundgibt! Kether ist der höchste, doch dahinter sehen die Kabbalisten noch Ayn und Ayn Soph, unbeschreiblich und verborgen in Ewigkeiten. Da’ath wird oft ausgelassen oder höchstens angedeutet, sie gehört nicht richtig dazu, steht aber in der Mitte und vermittelt zwischen Liebe/Energie (Chockmah) und Verständnis (Binah). Joseph Gikatilla wies im 13. Jahrhundert in seinem Buch Tore des Lichts, das ich in einer Woche im März 2017 gelesen habe, auf Jesaias 5,13 hin: »Darum muss mein Volk in die Verbannung; denn es hat keine Erkenntnis.« Zu Da’ath, das er DAT schreibt, sagt er:
DAT ist die Sphäre, die alle Sphären verbindet von oben nach unten und von allen Seiten. Die Essenz von DAT: die Sphäre, die alle Sphären einschließt. Denn es ist die Quelle der Kraft, die kein Ende hat und kein abschließendes Ziel.
Freilich schaut DAT auch hinüber zur bösen Seite, der sitra achra; auch zwischen Gut und Böse vermittelt es.
Da’ath und Hermes haben uns nun von der Smaragdtafel weggeführt, deren Text manipogo also morgen abdrucken muss.