Ein Velo und kein Geist

Ein Radfahrer wartet bangend auf einen Geist, der dann nicht kommt. So, jetzt ist der Schluss der Geschichte verraten, die ein alter Zermatter dem Hans Lehner für sein Buch Zermatter Sagen und Legenden erzählt hat. Aber weil das Velo (eines der ersten in Zermatt!) eine wichtige Rolle in dieser Pseudo-Gespenstergeschichte einnimmt, fand der kleine Zeugenbericht bei manipogo gnädige Aufnahme. 

Aber es war kein Geist da

Tourists at City center in Zermatt in ValaisEs war abends gegen 10 Uhr, als ich mit meinem Velo, einem der ersten in Zermatt, durchs Dorf fuhr. Ende Juli — Die Dorfstraße war voller Fremden, die an diesem schönen Sommerabend ihre Verdauungsspaziergänge machten. Die Zermatter fragten mich, wo ich denn so spät noch hin wolle?
Vor dem Hotel Tourist, das jetzt nach seinem Umbau den Namen »Walliserhof« trägt, traf ich einige Freunde. Sie nahmen mich mit in die Wirtschaft hinein, und jetzt ging das Erzählen los. Ich sagte, ich wolle zum Wässern nach Täsch, denn wir hätten das Wasser von Mitternacht bis 4 Uhr morgens.

SDC10479Man wollte mir Angst einjagen und begann mit dem Erzählen von Geister- und Bozengeschichten. Von Zermatt bis Täsch gäbe es keine hundert Meter, wo nicht ein Geist auftauchen würde, und zum Biel in dem kleinen Häuschen schaue regelmäßig ein Toter zum Fenster heraus. Viele hätten ihn gesehen … So ging es weiter, bis es halb zwölf schlug. Jetzt musste ich gehen, denn unser Wasser rann ab Mitternacht. (Rechtes Bild: Zermatt heute: geheimnislos. Uhrenwerbung in einem Schaufenster der Dorfstrasse)

Nun schwang ich mich auf mein Velo und fuhr los, Licht hatte ich keines. Die Talstraße lag wie ein weißer Streifen vor mir, und ich fuhr tüchtig zu. Die Geister im Spieß kamen mir in den Sinn. D’s Gruebusilli, der Teifmattenfuchs und die armen Seelen, die in der Nacht von einem Dorf zum andern wandern. Aber nirgends ein Laut außer dem Rauschen der Vispe. Hie und da schien es, als ob hinter Ställen eine Gestalt verschwinde oder aus einem Gebüsch glühende Augen auf mich schauten. Angst hatte ich nie und auch heute nicht. Jetzt holperte ich über die Bielbrücke, dann an den Ställen vorbei. Rechts vom Weg war das Restaurant zum Biel und daneben das Geisterhaus. Ich hatte es eilig …

Und da passierte es. Das hintere Rad machte knacks, und plötzlich ging es weder vor noch zurück. Ich flog im hohen Boden über die Lenkstange, machte einen Salto und landete aber ganz bequem im Wassergraben neben der Wirtschaft und genau vor dem Geisterfenster, zu dem ich, ob ich wollte oder nicht, hinaufschauen musste. So erwartete ich den Geist, jeden Augenblick musste er nun kommen. Alles blieb still und das Fenster leer. Ich tastete meine Knochen ab. Alle waren heil. Nichts tat mir weh. Also stand ich wieder auf. Auch das Velo hatte keinen Schaden abbekommen. Im Vorderrad steckte ein Lärchenast, der beim Überfahren in die Speichen geraten war. Das war’s. Ich entfernte den Ast und fuhr weiter. Bald sah ich die Lichter von Täsch. In der Bine nahm ich dem Lauber das Wasser ab. Es rann über die Wiese. Was konnte man in finsteren Nächten sonst noch tun? Den Rosenkranz hat man ja stets in der Tasche. Während ich zu den Sternen schaute, glitten die Körner durch meine Finger. Ein Gebet für die armen Seelen.

Der Name des Berichterstatters ist nicht überliefert worden. — Der Geist muss sich durch den Fall des Velos und den Flug seines Piloten mordsmäßig erschreckt habe, dass er entfleuchte und dieses Mal seine Geisterstunde schwänzte.  

Ò Õ Ö

Noch was zum Velo: Armando Basile wirft mir alle paar Monate eine Kopie in den Breifkasten, die über den Fortgang seines Lebensplans informiert, den man in Kilometern ausdrücken kann. Mittlerweile kenne ich das und danke Gott, dass ich nicht dauernd radfahren muss. Er, Armando, hat in den ersten drei Monaten des Jahres rund 10.000 Kilometer gemacht; das sieht wieder nach 40.000 im Jahr aus, was sonst nur Profis fahren, die normalerweise zwischen 25 und 35 Jahre alt sind und bärenstarke Jungs. 

Armando jedoch ist am 5. Februar 1947 geboren, und da kann jeder selber nachrechnen, wie alt er ist. Und dann ist man wieder einmal sprachlos, wenn man liest, er sei am 31. März 236 Kilometer gefahren, und das bei 7 bis 9 Grad und Regen … Er fuhr hoch nach Straßburg und wieder hinunter nach Basel. 75 Jahre hat er hinter sich, und vermutlich hat er 30 Jahre davon im Fahrradsattel verbracht, nonstop, eine Straße vor sich. Da erblasst noch der ruheloseste Geist.  

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