Radfahren lernen
Viele von uns erinnern sich vielleicht noch, wie es war, als sie das Radfahren lernten (bei mir ist es schon zu lange her), und amüsiert und gleichzeitig besorgt sehen wir zu, wenn ein Elternteil sein Kind anschiebt, es loslässt und ruft: »Jetzt in die Pedale treten! Ruhig sitzenbleiben, das Gleichgewicht halten!« Eine Stelle bei Paolo Coelho nimmt darauf Bezug, und Mark Twain muss auch erwähnt werden.
Mark Twain (Samuel Longhorne Clemens, 1835-1910) schrieb nach seinen leider schmerzhaften Erfahrungen den Aufsatz Taming the Bicycle, der 1917 in seinem Nachlass gefunden wurde. Als er 48 Jahre alt war, wagte er sich auf das Hochrad, stürzte öfter herunter, und bekam längeren Unterricht: acht Tage lang jeweils eineinhalb Stunden. Eine Liebe zum Fahrrad entstand nie. (Ich saß nur 2 Minuten auf einem Hochrad, das François anschob. Ich sprang ab. Zuviel Angst.) Am Ende der Geschichte Das Fahrrad zähmen schreibt er: »Hol dir ein Fahrrad. Du wirst es nicht bereuen (wenn du überlebst).«
Nun zu Paolo Coelho, dem brasilianischen Bestsellerautor, geboren 1947. Von ihm sollen laut Wikipedia 225 Millionen Bücher verkauft worden sein. 1991 erschien Auf dem Jakobsweg, und da kommen ihm die ersten Stunden auf einem Rad ins Gedächtnis.
Ich erinnerte mich, wie ich (…) die mystische Erfahrung mit dem Fahrradfahren verglichen hatte. Wir fahren und fahren, fahren und fallen und lernen keineswegs allmählich das Gleichgewicht zu halten. Dennoch ist das vollkommene Gleichgewicht plötzlich da, und wir beherrschen das Gefährt vollkommen. Es gibt keine kumulative Erfahrung, sondern eine Art »Wunder«, das sich erst in dem Augenblick vollzieht, in dem das Fahrrad »uns fährt«, oder besser gesagt, wenn wir bereit sind, uns dem Gleichgewicht der beiden Räder anheimzugeben. Und indem wir uns ihm anheimgeben, benutzen wir den ursprünglichen Impuls zu fallen dazu, ihn in eine Kurve oder einen Antrieb der Pedale zu verwandeln.
Das ist etwas schwerfällig formuliert, aber Coelho ist einfach kein guter Stlist, hat aber gute Geschichten. Im Sommer 2015 war ich bei meinem Freund Jan Paulsen in Drammen (Norwegen), und er hatte ein gelbes Rad, das von zwei Personen gefahren werden konnte: einer links, einer rechts. Mammamia, was für ein Gewackel und Ge-eiere, bis wir das Rad beherrschten und nicht es uns! Als würden wir das Radfahren erst erlernen. Nach zwei Runden fuhren wir in eine Pizzeria, und dann ging es schon ordentlich. (Bild rechts: Jan mit einem Freund auf diesem Rad)
Mir fiel plötzlich ein, dass der Philosoph Harald Atmanspacher in einem Buch über das Radfahren geschrieben hatte, konnte die Stelle aber nicht wiederfinden. Doch ich erinnere mich dumpf, dass es da ums »Nachführen« ging und das Halten der Balance durch kleine Bewegungen, und das ist ein guter Gedanke: Gleichgewicht ist nur von außen betrachtet etwas Statisches und Ruhiges. Wer es halten will, muss sich jedoch dynamisch verhalten, muss es in jeder Sekunde aktiv aufrechterhalten. Das Leben ist Bewegung; ich fühle mich vielleicht entspannt und habe alles im Griff, doch ich darf mich nicht damit zufriedengeben. Wie sagt der Fürst in dem Roman Der Leopard? »Perché tutto rimanga com’è bisogna che tutto cambi.« Damit alles so bleiben kann, wie es ist, muss sich alles ändern. Nicht radikal, aber andauernd und minimal.